Demokratie wird untergraben

Glenn Greenwald über das Verfahren gegen Dilma Rousseff und die politische Krise

  • Lesedauer: 8 Min.
In Brasilien steht im Senat die Entscheidung über ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff an. Ihre Absetzung gilt als sicher.

Herr Greenwald, das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff wird immer wieder mit der Korruptionsaffäre um den halbstaatlichen Energiekonzern Petrobras in Verbindung gebracht, in die auch die regierende Arbeiterpartei PT verwickelt ist.
Das Erstaunlichste daran ist: Beim Verfahren gegen Dilma geht es gar nicht um diese Affäre, und bisher wird ihr auch keine persönliche Bereicherung vorgeworfen. Unter Korruptionsverdacht steht dagegen eine Mehrheit jener Abgeordneten, die im Kongress gegen sie gestimmt haben. Im Falle Dilmas geht es vielmehr um weit verbreitete Tricks bei der Haushaltsführung. Es ist alles nur ein Vorwand, um mit Dilma eine zunehmend unpopuläre Präsidentin loszuwerden.

Seit zwei Jahren wird nun unter dem Namen »Lava jato« (»Autowaschanlage«) wegen Korruption rund um das größte Unternehmen Brasiliens ermittelt - wird dabei einseitig gegen die PT vorgegangen?
Eines ist zunächst beeindruckend: In den USA musste kein einziger Banker für die Finanzkrise 2008 ins Gefängnis, während in Brasilien nun auf einmal Milliardäre in Haft kommen und gegen Politiker verschiedener Parteien ermittelt wird. Es gibt eine junge Generation von Staatsanwälten und Richtern, die die gängige Korruption nicht mehr akzeptiert. Doch der zuständige Bundesrichter Sérgio Moro hat sich auf Ex-Präsident Lula versteift und ist geradezu davon besessen, ihn hinter Gitter zu bringen. Lulas kurzfristige Verhaftung wurde als öffentliches Spektakel inszeniert, dann Telefongespräche von ihm abgehört und noch am gleichen Tag den Medien zugespielt. Es gibt ernst zu nehmende Verdachtsmomente gegen Lula und die Verstrickung der PT in die Affäre ist unbestreitbar, aber Moro hat mit diesem Vorgehen den Grundsatz der Gleichbehandlung verlassen. Dabei sind allein 60 Prozent der Parlamentarier, gegen die derzeit ermittelt wird, keine Mitglieder der PT, sondern der rechtsnationalen PP.

Glenn Greenwald

Der britische Ex-»Guardian«-Journalist Glenn Greenwald (49) betreibt seit 2014 mit seinem Kollegen Jeremy Scahill und der Filmemacherin und Oscar-Gewinnerin Laura Poitras (»Citizenfour)« die gemeinnützige publizistische Webseite »The Intercept« (von engl. interception, Abhören). Der Fokus der vom eBay-Gründer Pierre Omidyar finanzierten Online-Plattform liegt auf der Aufbereitung des Materials des US-amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden. Greenwald lebt seit elf Jahren in Brasilien und schreibt regelmäßig über die politischen Vorgänge im Land. Über die politische Krise in Brasilien sprach mit ihm für »nd« Ole Schulz.

Am Montag hat der Übergangspräsident des Abgeordnetenhauses das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma zwischenzeitlich gestoppt. Kommt es am Mittwoch aber wie derzeit geplant zur Abstimmung im Senat, hätte Dilma da eine Chance - angesichts der konservativen Front der »Bíblia, Boi e Bala«-Politiker, der übermächtigen Sekten-, Agrar- und Waffenlobby?
Kaum. Bei der Abstimmung geht es darum, ob ein Gerichtsverfahren gegen Dilma eröffnet wird. Dafür wird im Senat eine Mehrheit von nur einer Stimme gebraucht. Es ist jetzt schon nahezu sicher, dass diese Ergebnis erreicht wird. Das hätte zur Folge, dass Dilma für 180 Tage vorläufig ihres Amtes enthoben wird. Vizepräsident Michel Temer von der Zentrumspartei PMDP, der als Strippenzieher im Hintergrund gilt, würde zum Präsidenten, ohne an den Wahlurnen gewonnen zu haben. Man muss sich das vor Augen halten: Würde etwa in den USA ein ähnliches Verfahren eingeleitet, würde Obamas Vize Joe Biden, der ja auch Demokrat ist, Präsident. Es geht also ungefähr so weiter wie vorher. In Brasilien würde mit Temer jemand an die Macht kommen, der ein politisch völlig anderes Programm hat als die PT, die seit 2002 ja immerhin vier Wahlen in Folge gewonnen und mit ihren Sozialprogrammen Dutzende Millionen Brasilianer aus der Armut geholt hat.

Es sieht danach aus, dass Temer bereits eine neue Regierung vorbereitet.
Seine Rolle sagt viel darüber aus, was gerade in Brasilien passiert. Denn Temer ist ein extrem unpopulärer Politiker. Nach Umfragen würde er bei einer Wahl zwei Prozent der Stimmen erhalten. Eine Mehrheit ist sogar dafür, Ermittlungen gegen ihn einzuleiten. Es gibt schwere Vorwürfe gegen ihn, unter anderem, soll er geholfen haben, Manager bei Petrobras einzusetzen, die nachweislich Schmiergelder erhalten haben.

Es werden immer mehr Korruptionsfälle bekannt. Mitte März wurde eine Liste des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht veröffentlicht, auf der Zahlungen an PolitikerInnen jedweder Couleur auftauchen. Es ist ein grundlegendes Problem des politischen Systems.

Es werden ja schon erste Namen gehandelt - auch über die Ministerposten hinaus.
Temer hat gesagt, sein Favorit für den Chef der Zentralbank sei Paulo Leme, der Präsident von Goldman Sachs in Brasilien. Es steht außer Frage, dass Temer eine unternehmer- und kapitalfreundliche, neoliberale Agenda hat, die mehr privatisieren und die von der PT eingeführten Sozialprogramme kürzen will - das ist eine Politik, mit der er bei Wahlen keine Chance hätte. Darum untergräbt das ganze Vorgehen auch die Demokratie.

Kann man denn von einem »Coup« sprechen, bisher folgt es ja dem parlamentarischen Prozedere?
Für mich ist das eine semantische Frage. Gemeinhin wird unter Coup ja ein Putsch des Militärs gegen eine demokratisch gewählte Regierung verstanden. Genau das ist 1964 in Brasilien geschehen - und damals ging es auch gegen eine linke Regierung. Und jetzt passiert das wieder - nur dass man dieses Mal nicht das Militär schickt, sondern Gesetze vorschiebt, um das zu erreichen. Manche reden darum auch lieber von einem »weichen« oder einem »parlamentarischen« Coup - aber im Ergebnis läuft es auf das Gleiche hinaus.

Damals haben die USA jahrelang vehement dementiert, dass sie etwas mit dem Militärputsch zu tun hätten.
Inzwischen sind geheime Dokumente und Aufnahmen veröffentlicht worden, die die aktive US-Beteiligung am Putsch belegen. Der Bericht der brasilianischen Wahrheitskommission von 2014 dokumentiert zudem, dass die USA und Großbritannien die Militärdiktatur auch danach unterstützt haben. Die brutale Militärjunta, die 20 Jahre an der Macht war, wurde von ihnen sogar in Foltertechniken trainiert - eines der Opfer war die heutige Präsidenten Dilma.

Jetzt geht es wieder gegen eine linke Regierung. Gibt es Beweise dafür, dass die USA die aktuelle Lage ausnutzen, um eine Regierung loszuwerden, die stark vom Handel mit China abhängig ist, und eine stärker pro-US-amerikanische Regierung zu installieren?
Nein, aber die brasilianischen Politiker, die eine neoliberale Agenda verfolgen, haben zweifellos freundschaftlichere Beziehungen zu den USA als die PT. Und Fakt ist auch, dass einen Tag nach der Abstimmung im Kongress mit Senator Aloysio Nunes von der rechten PSDB einer der führenden Oppositionspolitiker zu Gesprächen nach Washington gereist ist. Das wirft schon Fragen nach der Rolle der USA auf. Und es steht zudem fest, dass die USA eine starke Präferenz für die Sparmaßnahmen und kapitalfreundliche Politik haben, wie sie die Opposition im Falle eines Machtwechsels angekündigt haben.

Im neuen »Press Freedom Ranking« von Reporter ohne Grenzen ist Brasilien weiter nach unten gerutscht. Neben Gewalt gegen Journalisten spielt eine Rolle, dass die Medien »in der Hand von großen Industriefamilien« liegen, die »oft in enger Verbindung zur politischen Klasse« stehen.
Die großen Medien in Brasilien dienen den Interessen der plutokratischen Klasse. In einem Land, wo die sozialen Gegensätze bis heute extrem sind, ist es für die Herrschenden entscheidend, wie sie es verhindern können, von den Armen einfach überrannt zu werden. Darum nutzt man Medien zur Manipulation und Gehirnwäsche. Die Reporter ohne Grenzen haben überraschend deutlich gesagt, dass die großen Medien ganz offen für den Sturz von Präsidentin Dilma Rousseff agitieren. Täglich schalten rund 90 Millionen Brasilianer allein »TV Globo« ein - das ist fast die Hälfte der Bevölkerung. Und der Globo-Konzern hat mit all seinen Zeitungen, Radiostationen und Fernsehsendern für das Impeachment geworben und die Menschen ermuntert, gegen die Regierung zu demonstrieren.

Sie sagen aber, »Globo« und andere große Medien hätten inzwischen international und zum Teil auch in Brasilien die Deutungshoheit verloren ...
Vor einem halben Jahr hieß es noch eindimensional, dass das Volk wegen einer korrupten Regierung auf die Straße gehe. Das ist aus der Ferne eine reizvolle Erzählung, die an die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Ägypten erinnert. Doch inzwischen gucken die internationalen Medien genauer hin - und es zeigt sich, dass die Anti-Dilma-Demonstranten deutlich reicher und weißer sind als die Mehrheit der Brasilianer. Jetzt in der Krise haben sie die Chance, die verhasste PT-Regierung loszuwerden - angeführt von Politikern wie dem Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha von der PMDB. Cunha führte im Kongress den Vorsitz über Dilmas Amtsenthebung und ist einer der korruptesten Politiker überhaupt. Er hat über fünf Millionen Euro Schmiergelder auf Schweizer Konten liegen. Vergangene Woche wurde er nun endlich vom Obersten Gerichtshof seines Amtes enthoben.

Die Frage bleibt, ob das irgendetwas am Gang der Dinge ändern wird?
Das wird man sehen. Brasilien ist ein aufstrebendes Land, das Investitionen aus dem Ausland anziehen will. Die Elite achtet mittlerweile darauf, wie das Land international wahrgenommen wird - und da will man nicht als Bananenrepublik dastehen, als ein Land, in dem die Demokratie in Gefahr ist und man sich nicht auf die Institutionen verlassen kann.

Gleichzeitig werden ja immer mehr Korruptionsfälle bekannt, die ein grundlegendes Problem des politischen Systems unterstreichen: Stimmen, Posten und Pfründe werden verschachert, während die parlamentarische Immunität oft vor Strafe schützt. Wie lange kann es mit der strukturellen Korruption noch weiter gehen?
Bisher hat sich die Kampagne vor allem gegen Dilma gerichtet - und sie ist auch in Kreisen, die sie traditionell unterstützen nicht mehr beliebt, weil sie politisch so ungeschickt agiert und das Land wirtschaftlich in der Krise steckt. Doch was passiert, wenn die Pro-Business-Marionette Temer an der Macht ist? Dann wird vom Thema Korruption keine Rede mehr sein, um vor der eigenen Verstrickung abzulenken. Denn es geht gar nicht um einen Kampf gegen Korruption, sondern umgekehrt darum, sie unter den Tisch zu kehren. Und wenn das mehr Brasilianern bewusst wird, kann es zu massenhaften Demonstrationen, zivilen Ungehorsam und vielleicht auch gewalttätigen Widerstand kommen.

Sie befürchten, dass die Instabilität zunimmt?
Als ich Lula vor Kurzem interviewt habe, hat er etwas gesagt, was mich beeindruckt hat: Brasilien sei eine junge, fragile Demokratie, und wenn die demokratischen Institutionen untergraben werden, könne alles passieren. Dabei hat Brasilien unter den vier PT-Regierungen große Fortschritte gemacht. Es wäre traurig, wenn das jetzt aufs Spiel gesetzt wird. Denn es gibt schon das Risiko, dass die Dinge außer Kontrolle geraten.

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