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Starmers glückloses Jahr
Großbritanniens Premierminister hat viel versprochen, doch die großen Erfolge bleiben aus
Es waren Szenen, die den Zustand der britischen Regierung schonungslos versinnbildlichen. Am Mittwochmittag stand Premierminister Keir Starmer am Rednerpult im Unterhaus und ratterte mechanisch eine Liste mit den Errungenschaften seiner Labour-Regierung herunter – und hinter ihm saß eine offensichtlich bekümmerte Rachel Reeves und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Später ließ die Regierung verlauten, dass die Verfassung der Schatzkanzlerin einer persönlichen Angelegenheit geschuldet war, andere Abgeordnete berichten von einem Streit mit dem Parlamentssprecher. Aber die britischen Medien stürzten sich auf den Zwischenfall – denn er ist ein treffendes Symbol für die Stimmung innerhalb der Regierungspartei.
Genau ein Jahr ist es her, seit Starmer seine Partei zu einem überwältigenden Sieg geführt hat. »Der Wandel beginnt jetzt«, sagte er damals, als er nach 14 Jahren konservativer Tory-Regierungen die Führung im Land übernahm. Aber die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Zunächst machten führende Minister – darunter Starmer selbst – unfreiwillig Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass sie großzügige Geschenke von Sponsoren angenommen hatten. Das sorgte gerade deswegen für Empörung, weil die Regierung dem Rest des Landes eine Sparpolitik verordnete. Eine von den Tories eingeführte Beschränkung der Sozialleistungen für Kinder wurde beibehalten, zudem beschnitt Labour die staatlichen Heizzuschüsse für Rentner in den Wintermonaten. Bereits damals regte sich Widerstand am linken Rand der Fraktion – aber Starmer und Reeves hielten Kurs.
Verschärfte Asylpolitik
Unterdessen machten sie sich daran, ihre Wahlversprechen einzulösen. Dazu gehört, den maroden Gesundheitsdienst NHS auf Vordermann zu bringen. Die Aufstockung des Gesundheitsbudgets um 29 Milliarden Pfund hat durchaus erste Erfolge gezeigt – die Wartelisten für medizinische Behandlungen beispielsweise sind kürzer geworden. Aber was die restlichen Versprechen betrifft, sind die Ergebnisse eher dürftig. Das erhoffte Wirtschaftswachstum ist ausgeblieben, und in der Unternehmenswelt sorgt man sich, dass Reeves im Herbst weitere Steuererhöhungen ankündigen wird.
Auch hat es Labour nicht geschafft, die Flüchtlingsroute über den Ärmelkanal zu schließen – die »Sicherung der Grenzen« ist eine ihrer Prioritäten. In den ersten fünf Monaten 2025 kamen fast 15 000 Menschen auf diesem Weg nach Großbritannien, das sind 42 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum im Vorjahr. Dabei hat die Regierung nichts unversucht gelassen, um Härte zu demonstrieren: In ihrem Versuch, der aufstrebenden Rechtspartei Reform UK das Wasser abzugraben, hat sie die Asylpolitik verschärft und die legalen Migrationsrouten eingeschränkt. Damit hat sie jedoch viele linke Wählerinnen und Wähler verdrossen. Starmer räumte kürzlich ein, dass seine Rhetorik zu weit gegangen sei: Er hatte im Mai gesagt, dass Großbritannien zu einer »Insel von Fremden« zu werden drohe.
»Kein Premierminister seit 1945 hat einen so schlechten Start hingelegt.«
Anthony Seldon Historiker und Autor von Biografien zahlreicher britischer Regierungschefs
Wie enttäuscht die Öffentlichkeit von Labour ist, zeigt sich in den schlechten Umfragewerten. In den vergangenen Jahrzehnten ist keine neue Regierungspartei so schnell in Ungnade gefallen. Entmutigend sieht es auch für Keir Starmer aus: Seine Zustimmungswerte liegen tief im Minusbereich. »Kein Premierminister seit 1945 hat einen so schlechten Start hingelegt«, urteilte Anthony Seldon, Biograf von mehreren Regierungschefs, kürzlich in der BBC. Das Problem sei »fundamentale Inkompetenz«. Zu diesem Schluss sind auch viele von Starmers Parteikollegen gekommen.
Der Unmut über die Einsparungen beim Sozialbudget hat die Regierung diese Woche zu einer scharfen Kehrtwende gezwungen. Zuvor hatten die Anhänger Starmers und seiner Finanzministerin mit allen Mitteln versucht, die Rebellen auf Spur zu bringen. Aber sie waren nicht nur erfolglos, sondern machten alles nur noch schlimmer: Mit ihrer rabiaten Art, so berichten Parteikollegen, hätten sie viele Abgeordnete vor den Kopf gestoßen.
Was ist Starmers Projekt?
In Westminster sind mittlerweile viele Politiker und Kommentatoren überzeugt, dass Starmer schlichtweg das politische Gespür fehlt. Auch warnen Beobachter, dass der Rückzieher bei der Sparpolitik einen Autoritätsverlust nach sich gezogen habe. Es werde in Zukunft einfacher sein für seine parteiinternen Gegner, ihm die Zustimmung zu verweigern.
Dazu kommt, dass der Premierminister bislang keine kohärente Geschichte erzählt hat, wie er das Land verändern will. Regierungschefs haben normalerweise ein Projekt oder ein übergeordnetes Ziel, auf dem ihre Entscheidungen beruht. »Aber was ist Starmers Projekt?«, fragt die linksliberale Tageszeitung »The Guardian«. Dies sei die Frage, die der Premierminister schleunigst beantworten müsse, damit sein zweites Jahr erfolgreicher wird als das erste.
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