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Vom Abkommen abgekommen

Mit dem Streit um die Visafreiheit für die Türkei gerät der EU-Flüchtlingsdeal ins Wanken

  • Katja Herzberg
  • Lesedauer: 3 Min.
Es ist formell nicht einmal mehr ein Abkommen. Die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei droht zu scheitern. Fest steht nur: Noch sind die Grenzen nach Europa dicht.

Wer in Verhandlungen nicht mehr weiter weiß, greift gern zum Mittel der Drohung. Oft wird der Widerpart dann jedoch nicht unter Druck gesetzt, vielmehr manövriert sich der Drohende selbst ins Abseits. So ergeht es derzeit offenbar der türkischen Regierung.

Erst verschärfte ein Berater von Präsident Recep Tayyip Erdogan den Ton im Streit um die Umsetzung des Flüchtlingspaktes mit der EU. Via Kurznachrichtendienst Twitter drohte Burhan Kuzu, die Grenzen nach Europa zu öffnen. In Richtung des Europäischen Parlaments schrieb Kuzu: »Wenn es die falsche Entscheidung trifft, schicken wir die Flüchtlinge los.« Am Mittwoch legte der türkische Europaminister nach und schloss eine Reform des Anti-Terror-Gesetzes aus. Es entspreche schon jetzt den EU-Standards, eine Änderung sei weder nötig noch akzeptabel, sagte Volkan Bozkir dem Sender NTV in Straßburg und fügte hinzu: »Dieses Thema ist kein Bestandteil der Visa-Aufhebung«.

Das sieht das EU-Parlament ganz anders. Beim Abschluss des EU-Flüchtlingspaktes mit Ankara im März war verabredet worden, dass die Türkei für die Rücknahme der Flüchtlinge aus Griechenland schon ab Ende Juni mit der Visafreiheit belohnt wird. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass das Land 72 Kriterien erfüllt. Dazu gehören etwa die Reform des Anti-Terror-Paragraphen und des Datenschutzrechts. Laut EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) seien diese beiden Themen »nicht mal angepackt«. Für das Parlament stehe daher »außerhalb jeder Diskussion«, sich überhaupt mit der Aufhebung der Visumspflicht zu befassen, sagte Schulz am Mittwoch dem Deutschlandfunk.

Cornelia Ernst (LINKE), Mitglied im Innenausschuss des EU-Parlaments, unterstützt die Vertagung. Die Visafreiheit und der EU-Türkei-Deal dürfen »nicht einfach durchgewinkt werden«. »Wenn wir uns nicht an unsere eigenen Regeln halten, können wir den Laden dicht machen«, sagte Ernst dem »nd«. Sie kritisierte zudem, dass aus dem Abkommen eine Erklärung geworden sei, über die das EU-Parlament nicht in allen Bereichen mitentscheiden kann.

Die EU und die Türkei wollen mit ihrer Zusammenarbeit die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge reduzieren. Das ist nach eineinhalb Monaten bereits gelungen. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR kamen zuletzt nur noch 61 Flüchtlinge pro Tag in Griechenland an. Im April waren es noch 115, im März fast 900.

Nachdem Anfang April die ersten Abschiebungen von Griechenland in die Türkei begonnen haben - zentraler Bestandteil der EU-Türkei-Vereinbarung ist, dass alle illegal in die EU eingereisten Menschen zurückgeführt werden und im Gegenzug maximal 72 000 Syrer in die EU umgesiedelt werden - wird die Kritik an der Umsetzung lauter.

Die »rückgeführten« Menschen seien in Abschiebelagern untergebracht und hätten nicht die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Das berichtet Cornelia Ernst von einem Besuch an der türkisch-bulgarischen und an der türkisch-syrischen Grenze Anfang Mai. Die Menschen würden abgeschottet, hätten keinen Kontakt zu Anwälten oder Hilfsorganisationen. Die Bedingungen in den Lagern seien unwürdig, viele Räume überfüllt und mangelhaft ausgestattet. Geflüchtete haben der Delegation der Linkfraktion GUE/NGL im EU-Parlament zudem erzählt, von Polizisten beraubt worden zu sein, auch von griechischen Beamten. »Wir haben gesehen, welch schreckliche Konsequenzen die von der EU durchgesetzte Migrationspolitik hat. Hauptziel ist es, dass die Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden, egal welche Gefahren ihnen etwa in Afghanistan oder Jemen drohen. Alle, die nicht Syrer oder Iraker sind, werden sofort abgeschoben«, so Ernst. Das sei ein klarer Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.

Über Menschenrechtsverletzungen durch die türkischen Behörden berichtete bereits am Dienstag die Organisation Human Rights Watch. Sie warf Grenzbeamten vor, auf syrische Flüchtlinge zu schießen und sie zu misshandeln. Alleine im April und Mai seien drei Flüchtlinge - ein 15-jähriger Junge und zwei Schmuggler - getötet und 14 Menschen verletzt worden. Die meisten Fälle hätten sich an der Grenze südlich der türkischen Stadt Antakya zugetragen.

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