Rollis ketten sich an: Protest gegen Teilhabegesetz
Aktivisten demonstrieren vor Aktion am Reichstagsufer gegen Novelle: Nicht genug zur Barrierefreiheit / Sozialverband: Bundesregierung agiert zu Lasten von Menschen mit Behinderungen / SoVD startet Aktion für Barrierefreiheit
Berlin. Aktivisten in Rollstühlen haben sich in der Nacht zum Donnerstag in Berlin am Reichtagsufer festgekettet, um gegen das geplante Bundesteilhabegesetz zu protestieren. Sie wollen dort bis Donnerstagmittag ausharren, wenn im Bundestag über die Gesetzesnovelle entschieden wird. Behinderten- und Sozialverbände kritisieren, dass die Reform des bisherigen Behindertengleichstellungsgesetzes nicht genug zur Barrierefreiheit beiträgt. »Wir fordern, dass auch private Anbieter zur Barrierefreiheit verpflichtet werden«, sagte die Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland und Mitinitiatorin der Aktion, Sigrid Arnade, Donnerstagnacht am Reichstagsufer. Unter anderem Gaststätten, Restaurants oder Kinos müssten auch nach Verabschiedung des Gesetzes keinen Zugang für Menschen im Rollstuhl ermöglichen, so Arnade. Das Bundesteilhabegesetz sieht diesen verpflichtend nur für Ämter und Bundesbehörden vor.
Auch der Sozialverband VdK Deutschland kritisiert die Reform als völlig unzureichend. VdK-Präsidentin Ulrike Mascher sagte der »Neuen Osnabrücker Zeitung« die Bundesregierung mache »nur halbe Sachen - zu Lasten von Menschen mit Behinderungen, die in Deutschland auch künftig auf zahllose Barrieren stoßen werden«. Die Kritik zielt darauf ab, dass die neuen Regeln nur für öffentliche Gebäude und Ämter gelten. »Sie gelten aber nicht für den kompletten privaten Bereich, also etwa für Gaststätten, Hotels, Supermärkte oder Arztpraxen.«
Da setze die Bundesregierung leider nur auf freiwillige Vereinbarungen. Es gebe offensichtlich eine mächtige Lobby, »die stärker ist als die Sozialverbände«. Die VdK-Präsidentin befürchtet nun , dass weiterhin viele Menschen mit Behinderung oder Beeinträchtigung wichtige Dienste und Angebote nicht nutzen können. Mascher: »Es gibt einen Klassiker - unten ist die Apotheke, im ersten Stock ist der Arzt, und es ist kein Lift da. Von der viel beschworenen freien Arztwahl kann da ja wohl keine Rede sein. Solche Beispiele gibt es leider viele tausend Mal in Deutschland. Und es kommt noch schlimmer: Selbst Altenheime sind nicht alle barrierefrei.«
Scharfe Kritik am geplanten Behindertengleichstellungsgesetz äußert auch der Sozialverband SoVD: »Trotz positiver Ansätze hält das Gesetz nicht das, was es verspricht. Es wurde insbesondere versäumt, die privaten Anbieter von Gütern und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Damit bleibt es bei den Hindernissen, die den Alltag behinderter Menschen maßgeblich erschweren. Zum Beispiel beim Arztbesuch, beim Sport oder an der Theaterkasse«, erklärt SoVD-Präsident Adolf Bauer anlässlich der heutigen Beratung des Gesetzes im Deutschen Bundestag. Der SoVD hatte sich bereits zum Jahresbeginn mit einer ausführlichen Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf positioniert und Nachbesserungen gefordert.
»Es ist nicht nur eine schwere Enttäuschung für die Betroffenen, dass mit dem Gesetz eine Chance auf weniger Barrieren vergeben wurde. Zudem ist es auch eine Absage an die UN-Behindertenrechtskonvention, die von der Bundesregierung 2009 anerkannt wurde. Und deshalb startet der SoVD heute eine Aktion, die den weiterhin gebotenen Handlungsbedarf in der erforderlichen Schärfe thematisiert«, sagt Adolf Bauer. Mit der Veröffentlichung »So leben wir wirklich! Unser Alltag mit Barrieren« informiert der SoVD über Barrieren im Alltag behinderter Menschen. Die geschilderten Alltagszenen sollen zum Nachdenken anregen und in das Bewusstsein von Akteuren in Politik und Wirtschaft rücken. Agenturen/nd
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!