Unter Hemden wandernde Hände

Der Umweltrettungstrivialroman »Macht« von Karen Duve zeigt, dass Prosa, die gut gemeint ist, selten gut gemacht ist

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 6 Min.

Wir befinden uns in der nicht allzu fernen Zukunft, im Jahr 2031: Die Gletscher schmelzen schneller, Tornados und Überschwemmungen sind an der Tagesordnung, die Klimakatastrophe ist weit fortgeschritten, die Ressourcen gehen zur Neige. Aus Deutschland ist eine Art feministisch gelenkte Öko-Erziehungsdemokratie geworden. Den Frauen hat man die Macht überlassen, damit die vielleicht noch was reißen können. Wie es dazu gekommen ist, wird nicht weiter erklärt. Muss ja auch nicht.

Doch auch der nahende Weltuntergang tut dem allgemeinen Jugendlichkeitskult und Körperoptimierungswahn keinen Abbruch: Fast alle Bürgerinnen und Bürger schlucken die populäre Droge »Ephebo«, ein Verjüngungsmittel, das den alternden Körper biegsamer und frischer macht, ihn in kurzer Zeit um Jahrzehnte jünger erscheinen lässt, aber - in hoher Dosierung und regelmäßig eingenommen - Krebs verursacht. Für den Kapitalismus hat das enorme Vorteile: Denn wer früher stirbt, fällt nicht dem Gesundheitssystem zur Last, ist »kein relevanter Kostenfaktor« mehr. Sein Tod schlägt in den Bilanzen der Krankenkassen positiv zu Buche.

Doch im Grunde bleibt diese Dystopie, die gesellschaftliche Ordnung, in der Karen Duves Science-Fiction-Roman »Macht« spielt, nur eine papierne Kulisse. Im Mittelpunkt nämlich steht etwas bzw. jemand anderes. Und zwar Sebastian bzw. »Bassi«, unser Erzähler und unsere Hauptfigur, ein Ekelpaket ersten Ranges: »Wer einfach altert, ohne etwas dagegen zu unternehmen, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.« Früher, als er noch jung war, gehörte er zu den Greenpeace-Spinnern, mittlerweile ist er aber zur Vernunft gekommen und irgendwie (wird auch nicht weiter erklärt) zu einem geistesgestörten, frauenhassenden, egoistischen, gewalttätigen, sadistischen Riesenarschloch mutiert: »Ich bin lange genug von Frauen und ihren blöden Argumenten manipuliert worden. Ich habe ein Recht darauf, die letzten paar Jahre vor dem Weltuntergang in Frieden zu verbringen.«

Um die Jahre schön in Frieden zu verbringen, hat Bassi seine Ex-Ehefrau, von der sich nach einiger Zeit herausstellt, dass es sich um die Ministerin für Umwelt, Naturschutz, Kraftwerkstilllegung und Atommüllentsorgung handelt, nach Art Josef Fritzls in einem Kellerverlies seines Hauses eingesperrt und angekettet und hält sie dort wie Vieh gefangen. Er vergewaltigt, misshandelt und erniedrigt sie nach Lust und Laune und lässt sie je nach Bedarf Kuchen backen und Männchen machen. Bassi: »Da denkt man gleich an Inquisition oder SM-Studio, aber ich bin kein Perverser, bloß ein Mann mit seinen ganz normalen Bedürfnissen.«

Karin Duves Roman »Macht« muss als eine Art in Prosaform gebrachte Illustration ihres vor zwei Jahren erschienenen und zum Bestseller gewordenen Pamphlets »Warum die Sache schiefgeht« (Untertitel: »Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen«) verstanden werden, in dem sie in - milde formuliert - nicht gerade analytischer Weise darlegt, dass an ausnahmslos allem Übel in der Welt die in den Chefetagen sitzenden, asozialen, frauenverachtenden Alpha-Männer schuld seien. Man könnte auch sagen, der Roman steht ganz im Dienst der eigenwilligen Gegenwartsinterpretation, die in Duves eher schlicht gedachtem Essay ausgebreitet wird: »Eine höhere Psychopathendichte als in Politik und im oberen Management findet sich nur noch in den Hochsicherheitstrakten amerikanischer Gefängnisse.«

Dem Roman ist deutlich anzumerken, dass seine Autorin ein beängstigend schlichtes Weltbild und sehr viel Moral im Angebot hat, aber keinen Begriff von der strukturellen Funktionsweise des Kapitalismus. Was dazu führt, dass die im Erzähltext ausgestellte Zivilisations- und Kulturkritik nicht selten ins Reaktionäre spielt.

Kurz: Die Schriftstellerin Karen Duve hat eine Art vulgärkapitalismuskritischen Konzeptroman geschrieben, in dem sämtliche aus dem Gesellschaftssystem erwachsenden Probleme und sämtliche Ungerechtigkeiten, die es permanent produziert, personalisiert und auf diese Weise simplifiziert werden. Folgt man Duve, sind an der fortgesetzten Menschen-, Tier- und Naturausbeutung, dem CO2, der Klimakatastrophe und der daraus folgenden Misere des sich beschleunigenden Weltuntergangs wahlweise »die Reichen«, »die Männer«, »die Politiker«, »die Manager«, »die Industriebosse« und jene Typen mit »emotionalen Defiziten« schuld, die es schleunigst in die Schranken zu weisen bzw. zu entmachten gelte, auf dass die Welt wieder ein einzig Wohlfühlparadies und Bussibärland werde. Systemkritik nach Art von Lies᠆chen Müller: Die bösen Bonzen da oben machen alles kaputt und verjuxen unsere gute Mutter Erde, und wir armen Seelchen, die reinen Herzens sind, müssen schauen, wo wir bleiben.

Der Roman »Macht« ist von der Autorin vorsorglich von vorn bis hinten mit allerlei expliziten und impliziten Botschaften ausgepolstert worden, die für ihre Weltrettungsmission bzw. für ihre Vorstellung einer weltumspannenden Landidylle Reklame machen sollen: Konsumverzicht, vegane Ernährungsweise und industrieller Rückbau. Auch ihren extrem holzschnittartig geratenen Figuren legt Duve zu diesem Zweck reihum die passenden Platitüden in den Mund bzw. lässt sie das jeweilige Verhalten an den Tag legen: Die Jugend ist von Smartphone, Computerquatsch und Internet verblödet und erzählt sich keine Geschichten mehr am Lagerfeuer (schlimm!), die Menschen werden von Aggression, Konsumwahn und Gier beherrscht (noch schlimmer!) statt von Bescheidenheit und dem Willen zu Askese und Hilfsbereitschaft. Alles an dem Roman schreit: Ich will belehren, ich habe eine Botschaft, ich bin ein flammender Appell, der dazu mahnt, der bösen Industriegesellschaft Einhalt zu gebieten. Doch ein Appell ist in den allerseltensten Fällen Literatur. Dieser hier ist jedenfalls keine.

Was »Macht« an Gratisgesinnung, evangelischer Kirchentagsmoral und simplifizierten Welterklärungsmodellen zu viel hat, wurde offenbar an der Sprache eingespart. »Ihre grünen Augen verengen sich zu Schlitzen.« »Ellis Augen tauchen tief in die meinen.« Wer heute ohne Not und mit voller Absicht solche Sätze in einen Roman hineinschreibt, hätte schon allein dafür beim Leser einiges wiedergutzumachen, doch stattdessen wird dieser enervierende Groschenheftstil über viele Seiten perpetuiert. »Ich küsse sie, ziehe sie an mich und fühle ihre Wärme, die weinsüße Nässe ihres Mundes.« »Ich presse meinen Mund auf Ellis kleine, jugendliche Spalte.« »Ihr Körper zuckt bei meiner Berührung wie nach einem elektrischen Schlag.« Auch wandern Hände unter Hemden umher usw. Man kennt das ja alles aus den einschlägigen Bahnhofsbuchhandlungsschwarten.

Die Qualität eines Prosawerks wird hierzulande - zum letzten Mal war das nach Erscheinen des umjubelten, die Allmacht der datensammelnden Konzerne beschwörenden Zukunftsromans »Der Circle« von Dave Eggers so - nach wie vor gern nach seinem Inhalt beurteilt: Für seine intensive Beschäftigung mit der Frage nach dem Umgang mit überholten Geschlechterstereotypen wird ein Roman dann etwa gelobt oder für seine gelungene Auseinandersetzung mit unserer modernen technologischen Arbeitswelt. Und damit fangen die Probleme an und die Unbeholfenheit der Literaturkritiker wird offenbar: Nicht nur müssen die Rezensenten diese meist achtlos hingerotzte Aktualitäts- und Gesinnungsprosa zu Kunst adeln, sie müssen auch oft darüber hinweglügen, dass das betreffende Werk formal und stilistisch entsetzlich misslungen ist (bei Karen Duves nur notdürftig als Thriller verkleidetem Empörungs- und Umweltschutzgroschenroman fiel das anscheinend kaum irgendwem auf, auch hier hat die Kritik sich, wie so oft, nur auf den Inhalt gestürzt).

In nicht wenigen handelsüblichen Literaturkritiken reihen sich an umständliche Nacherzählungen des Romaninhalts oft nur Beschwörungen des Rezensenten, dass das betreffende Werk ein »Gegenwartsproblem« bzw. eine »Zeitstimmung« besonders »anschaulich« oder gar »spannend« schildere oder wiedergebe. Ganz so als gingen die Aufgaben der Literatur nicht über die eines Tagesthemen-Kommentars hinaus. Georg Diez vom »Spiegel« hat bereits in Duves 2014 erschienener unausgegorener und teils antizivilisatorischer Streitschrift den »unanalytischen Antikapitalismus des Bio-Bürgertums« am Werke gesehen und die Schriftstellerin als »eine Art feministisch-vegetarischen Pirincci« wahrgenommen. Sagen wir’s mal so: Falsch ist das nicht.

Karen Duve: »Macht«. Galiani Verlag, 414 S., geb., 21,99 €.

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