Putsch und Schwanensee

Im Kino: »The Event« von Sergej Losnitza

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.

Zum 25. Jahrestag der Ereignisse, die zur Auflösung der Sowjetunion führten, montiert Sergej Losnitza Film- und Tonaufnahmen vom Augustputsch 1991 zu einem Mix zusammen, der vom Widerstand gegen die Putschisten zeugt - und vom Beginn des nationalen Taumels, der genau die Reformen nachhaltig behinderte, zu deren Verhinderung die Moskauer Putschisten vom August 1991 angetreten waren. Wie Losnitzas preisgekrönter »Blokada« über die Belagerung von Leningrad im Zweiten Weltkrieg ist auch »The Event« ein Found Footage-Film. Losnitza montiert Schwarz-Weiß-Bilder von früheren Kollegen des Dokumentarfilmstudios Sankt Petersburg in vage chronologische Folge, teils mit zugehörigem Ton, teils mit Tonaufnahmen aus anderen Quellen. Ein einziges Mal wird erklärt, wer vor der Kamera spricht, sonst kommt der Film ohne Kommentar aus.

Der Proklamation der Putschisten, die Gorbatschows Reformen summarisch für gescheitert erklären, setzt ein Volksredner entgegen, der Prozess der Demokratisierung sei längst unumkehrbar. Menschen und Busse blockieren öffentliche Zufahrten und Plätze, das Fernsehen schaltet auf Ballett-Sendungen um: Tschaikowskis Schwanensee ist darum die einzige Musik, die Losnitza als Interpunktion einsetzt. Telefonzellen, Transistorradios und Uniformierte finden sich von Menschenmassen auf der Suche nach verlässlichen Informationen umringt.

Das Gerücht geht um, Gorbatschow, von den Putschisten für krank erklärt, sei in Wahrheit längst tot. Während einer aus der Menge kommentiert, Gorbatschow sei schließlich nicht Christus (sprich: weder Heilsbringer noch unersetzlich), will ein anderer wissen, ob jedenfalls Boris Jelzin noch am Leben sei. Offizielle in Zivil mahnen zur Ruhe und reden gegen die Barrikaden, auch das mythische Wort von »Provokationen«, die es zu vermeiden gelte, macht die Runde. Menschen stehen zusammen, proklamieren Positionen, streiten sich - und tragen die eben gekauften Kartoffeln noch mit sich herum. Was los ist im fernen Moskau, weiß so recht keiner.

Ein paar jüngeren Männern steht Euphorie ins Gesicht geschrieben, als sie einen Büro-Container kippen und zur Straßensperre umfunktionieren. Die einen schreien gegen den Kommunismus und die Putschisten, die ihn festschreiben wollen, koste es das Volk, was es wolle, andere treten an, um den Len-Sowjet gegen die faschistische Diktatur zu verteidigen. Jemand stimmt Spottgesänge gegen Jelzin an, zu der Zeit Präsident der Russischen Teilrepublik. Ein orthodoxer Priester mahnt gegen Gewalt. Sprecher an Megaphonen halten dagegen: »Wenn Komsomolzen etwas anfangen, geht es immer schief.«

Es ist eine angespannte, schlecht informierte Menschenmenge, die hier »streikt«. Anders als auf dem Kiewer Maidan (und in Losnitzas gleichnamigem Dokumentarfilm über die dortigen Dauerproteste), wo jeder genau wusste, wofür er auf die Straße ging, sind die Fronten fließend, scheint die Unruhe, die auf die Straße treibt, eher allgemeine Sorge vor Veränderung. Perestroika ist mal ein Begriff, den es zu verteidigen gilt, mal ein Schimpfwort, die neue religiöse Freiheit mal ein hohes Gut, mal Zeichen der Fraternisierung von Kirche und KGB. Weil in Leningrad gedreht wurde, nicht in Moskau, fehlen dramatische Szenen von Panzern vor Regierungsgebäuden oder Präsidenten, die auf Panzer steigen. Was stattdessen vorherrscht, sind Erinnerungsbilder an frühere Revolten, frühere Blockaden.

Die Putschisten betonen in Flugblättern die Legitimität ihrer Aktionen. Nach gut zwanzig Minuten Film widerspricht Jelzin dem energisch übers Radio und nennt den Coup beim Namen: einen Staatsstreich. Vom Parlament werden Jelzins Worte weiterverbreitet, Verteidigungsaufgaben verteilt (die Afghanistan-Veteranen bewachen nachts den Flughafen), die unerwartete Kooperationsbereitschaft der Armee gelobt und die öffentliche Ruhe bei gleichbleibenden Kriminalitätsraten festgestellt: Zwangsmaßnahmen seien bisher nicht nötig gewesen. Im Gefolge des Leningrader Bürgermeisters läuft ein junger Putin mit.

Die Menge draußen erhält nun endlich die Anweisungen von oben, auf die sie lange gewartet hat. Das selbst ernannte Komitee für den Ausnahmezustand wird verboten - ein Teil der Menge jubelt. Und bald münden die überlappenden anti-kommunistischen und anti-faschistischen Äußerungen der frühen Aufnahmen in den neuen russischen Nationalismus, der inzwischen tatsächlich die Zukunft beherrscht.

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