Der Erste und der Letzte

Heute vor 50 Jahren gewann Wolfgang Behrendt das erste DDR-Olympiagold, Jürgen Schult holte das 203. und letzte

  • Lesedauer: 9 Min.
Heute vor 50 Jahren, am 1. Dezember 1956, siegte der Berliner Boxer Wolfgang Behrendt im olympischen Bantamgewichtsfinale von Melbourne gegen den Südkoreaner Song Soon Chon und holte als Mitglied einer gemeinsamen deutschen Mannschaft den ersten Olympiasieg für die DDR. Der Schweriner Diskuswerfer Jürgen Schult wurde am 1. Oktober 1988 in Seoul der 203. Olympiasieger seines Landes. Und es war, wie sich später zeigte, das letzte Mal, dass bei Olympia die Hymne der DDR erklang. ND brachte beide Olympioniken erstmals an einen Tisch und ging mit ihnen auf Spurensuche durch den deutsch-deutschen Sport.
ND: Herr Behrendt, Sie gewannen das erste olympische Gold für den DDR-Sport. War Ihnen damals die Tragweite Ihres Sieges auch nur annähernd klar?
Behrendt: Also, ich habe es nicht als das empfunden, was nachher daraus gemacht wurde. Damals, mit 20 Jahren, habe ich nicht gesagt, ich muss jetzt unbedingt Gold holen, weil das mal eine große politische Bedeutung haben wird. Ich war immer ehrgeizig. Ich wollte einfach jeden Kampf gewinnen. Dazu kommt, dass im Boxen das Verlieren einfach wehtut, weil du was abkriegst.

Herr Schult, sehen Sie Ihren Diskus-Erfolg von 1988 heute in ganz anderem Licht? Es war schließlich der letzte Olympiasieg der DDR.
Schult: Nein, das Gold war damals kein Politikum für mich und das ist es aus heutiger Sicht auch nicht. Das ist eine Sache, die ich für mich gemacht habe, für meinen Trainer, meinen Verein, meinen Physiotherapeuten, meinen Kraftfahrer, für den Koch, der mir mein Steak gebraten hat. Das war die Truppe, die sich in Seoul 1988 am meisten mit mir gefreut hat.

An gleicher Stelle gab es ein erstes Wiedersehen zwischen Wolfgang Behrendt und seinem einstigen Finalgegner Song Soon Chon aus Südkorea...
Behrendt: Ja, ich war als ND-Fotograf bei den Spielen 1988 dabei. Der damalige Chefredakteur der größten Sportzeitung Südkoreas hatte meinen Namen in der Akkreditierungsliste gefunden und das Treffen mit Song Soon Chon arrangiert. Wir wissen doch, wie das so ist vor Olympischen Spielen - nix los, da muss immer irgendwas gemacht werden für Zeitungen und Fernsehen. Die DDR-Funktionäre waren eigentlich gegen das Treffen, weil wir nicht mal diplomatische Beziehungen zu Südkorea hatten. Als ich am nächsten Tag vom Foto-Einsatz kam, standen alle schon da - Reporter, Fotografen, Fernsehteams. Dann haben wir die Sache eben gemacht.

Haben Sie noch Kontakt zu Chon?
Behrendt: Überhaupt nicht. Auch 1988 hat ja kein richtiges Gespräch stattgefunden. Er konnte nur Koreanisch - und ich mit meinem bisschen Bordell-Englisch ... Ich habe den nur die drei Runden 1956 gesehen und später in Seoul. Dabei hat er so mickrig geblickt, dass ihn die Journalisten gefragt haben, ob ihn die Niederlage immer noch ärgere. Ja, hat er gesagt, denn erstens sei es seine einzige Niederlage gewesen. Zweitens bekomme er für Silber bis ans Lebensende monatlich etwa 300 Euro. Aber bei Gold wäre es das Doppelte gewesen.

Und wieviel haben Sie gekriegt?
Behrendt: Ich? Nichts.

Es gab keine Prämie?
Behrendt: Ach, ich sage ja immer, ich bin der einzige DDR-Olympiasieger, der nie einen Vaterländischen Verdienstorden bekommen hat.

Aber wenigstens einen schönen Job beim ND ...
Behrendt: (lacht) Ja ja, aber den habe ich nicht durch den Olympiasieg gekriegt.

Herr Schult, wie viel Geld gab es denn für Ihren Olympiasieg 1988?
Schult: (überlegt) Oh, wie viel war das eigentlich?

Für Olympiasieger gab es den Vaterländischen Verdienstorden.
Behrendt: Mir fällt ein, ich kriegte den Verdienten Meister des Sports. Dafür gab es 2000 Mark.
Schult: Ich erinnere mich, dass es 30 000 Mark für Gold gab und 6000 Westmark, in Forumschecks.
Behrendt: Ich muss da noch was hinzufügen: 1956 hat die Bundesrepublik getönt, dass mir der Bundespräsident Theodor Heuss das Silberne Lorbeerblatt zugesprochen habe. Das wollte ich mir auch abholen. 1956 war die Grenze ja noch offen. Aber als ich am Flughafen in Berlin-Tempelhof mein Gepäck aufgeben wollte, standen zwei Männer in Ledermänteln neben mir: »Du, wir finden das nicht so gut, wenn du da hinfährst.« Dann haben sie meinen Koffer genommen und mich zurückbegleitet. Und jetzt, 16 Jahre nach der Wende, habe ich den Silbernen Lorbeer immer noch nicht.

Stichwort deutsch-deutsche Beziehungen. Herr Schult, beim Länderkampf DDR gegen BRD 1986 haben Sie dem in den Westen ausgereisten Berliner Werfer Wolfgang Schmidt bei der Siegerehrung den Handschlag verweigert. Auf Anweisung hieß es. Stimmt das?
Schult: Das ist richtig. Bei dem Wettkampf waren vier, fünf Leute immer um uns herum, die nur geguckt haben, was auf unserer Seite passiert, einer war extra wegen Schmidt da. Der sprach im Hotel mit meinem Trainer, und mein Trainer sagte mir danach: »Wir geben ihm nicht die Hand.« Das war für mich die Anweisung, die Hand wegzuziehen.

Wie funktionierte das deutsch-deutsche Olympiateam 1956?
Behrendt: Diese Mannschaft war doch vom IOC aufgezwungen. Und von der deutsch-deutschen »Gemeinsamkeit« war in Melbourne wenig zu spüren. Im Boxen trainierten wir nicht mal zusammen, weil die Boxer der West-Seite sehr viel später angereist waren.

Sie waren Mitglied des NOK der DDR und nach der Wende Mitglied des NOK für Deutschland. 2006 kam der DOSB. Was sind Sie jetzt?
Behrendt: Nichts mehr. Es ist schade, denn so ein Dachverband braucht auch ältere Leute mit Erfahrungen, so wie man jüngere Leute braucht. Ich habe das Empfinden, dass da noch große Unterschiede zwischen Ost und West gemacht werden.

Herr Schult, Sie haben als Sportler die DDR und das bundesdeutsche Sportsystem kennengelernt. Welcher Unterschied machte Ihnen zu schaffen?
Schult: Manchmal hatte ich in den 90er Jahren das Gefühl, ich sei in einem Sozialverein gelandet. Das gravierendste Erlebnis hatte ich 1992 bei Olympia in Barcelona. Nachdem Kugelstoßer Udo Beyer mit einer jämmerlichen Leistung in der Qualifikation gescheitert war, fielen ihm die Funktionäre um den Hals: »Danke Udo! Schön, dass du dabei warst.« Da fiel ich fast vom Glauben ab. In der DDR hätte es geheißen: »Hier ist die Fahrkarte, wir bringen dich zum Zug.«

Sie fingen einst in der Spartakiadebewegung an. Vermissen Sie so etwas heute?
Schult: Wenn ich höre, dass der bayerische Meister für manchen schon das Highlight sein kann, zweifle ich. Und wenn diese Meister dann schon mit 15, 16 Jahren mit Sponsorenverträgen zugeschüttet werden, wird Leistungsdenken ad absurdum geführt.

Woran fehlt es dem deutschen Sport dieser Tage?
Behrendt: Es gibt einen Riesenunterschied zwischen Vorhaben und Wirklichkeit. Es ist heute keiner wirklich gewillt zu fördern. Die Mäzene picken sich ein, zwei Talente raus, aber keiner kümmert sich um die Masse. Im Boxsport beispielsweise ist der Abstieg gravierend. Die besten Trainer sind zu den Profis gegangen, die Boxer folgten ihnen. Die Nachwuchszentren im Osten sind tot, weil kein Geld mehr da ist.
Schult: Seit sechs Jahren bin ich Bundestrainer, noch nie hat irgendeiner mal hinterfragt: Mache ich das richtig? Es gibt keinen Cheftrainer mehr, der aus Berlin kommt und nach den Trainingsprotokollen fragt. Das ist vorbei. Die Misere geht weiter bis zum Schulsport: Wer hat überhaupt noch ein Stadion zur Verfügung? Wer eine Schwimmhalle?

Ist das ein strukturelles Problem oder liegt's an den Leuten?
Schult: Den Sport, den wir kannten - Idealismus, Freude an der Bewegung, mit anderen zusammen spielen -, gibt es nicht mehr.
Behrendt: Heute sagen die Eltern: Werd Fußballer, da verdienst du einen Haufen Geld. Nichts mit sportlichen Ehren oder dergleichen. Olympische Medaillen dienen nur noch als Trittbrett zum Geldmachen.

Wie war das, als Sie anfingen?
Behrendt: Das war 1948. Ein Junge, dessen Vater Berufsboxer war, hat Boxhandschuhe mit in die Klasse gebracht. Eine Sensation! Wir haben gelost, wer den linken kriegt, wer den rechten. Dann wurde geboxt. Mir machte es Spaß. Ich wollte mehr. Aber ein Monat in der Boxschule kostete 25 Mark. Ich habe dafür Flaschen und Altpapier gesammelt. Als ich 12,50 Mark zusammen hatte, bin ich zum Trainer Karl Schwarz in Weißensee gegangen: Kann ich für 12,50 jeden zweiten Tag trainieren? Seine Frau, stets dabei, warnte: Um Gottes Willen, den kleinen Hübschen zerhauen sie doch hier. Aber der Trainer sagte ja.
Schult: Was glaubst Du, was Jugendliche heute denken, wenn Du ihnen diese Geschichte erzählst?
Behrend: Die lachen und sagen, der spinnt. Mir glaubt kein Mensch.

Wird denn auch gelacht, wenn Sie von Ihren Anfängen erzählen, Herr Schult?
Schult: Ich halte mich zurück. Ich bin Radrennen gefahren und Rollschuhrennen gelaufen. Irgendwann kamen Talentsucher und ich wurde zur Sichtung eingeladen. Es ging unspektakulär los.

Ihr Weltrekord von 1986, 74,08 m, besteht noch immer. Der Deutsche Leichtathletik-Verband wollte ihn nun - wie andere Rekorde von DDR-Sportlern - wegen angeblichen Dopings für alle Zeiten »einfrieren«. Ihre Reaktion?
Schult: Ich habe dem DLV geschrieben, dass er mit dem Rekord machen kann, was er will. Ich kann auch drauf verzichten. Nur löst man damit das Problem nicht. Morgen wirft einer 73 Meter weit. Was macht man damit? Ist das auch eine unter Dopingverdacht stehende Leistung? Nimmt man diese 74,08 m raus, gibt es in meiner Karriere nichts Auffälliges. Dieser eine Wurf, irgendwo hängt der mir fast zum Halse raus.
Behrendt: Auf der anderen Seite rühmt man sich heute der Medaillengewinne und Rekorde. Zur ganzen Dopingdebatte sage ich nur: Die besten Gesetze bringen nichts. Der Sache kann man nur begegnen, wenn man das große Geld, die Riesenprämien aus dem Sport herausnimmt. Dann hat keiner eine Motivation zu dopen.

Wie weit werfen Sie heute noch den Diskus, Herr Schult?
Schult: Letztes Jahr habe ich 58 Meter erreicht, ohne Training.

Herr Behrendt, wie treiben Sie heute Sport?
Behrendt: So wie ich mir morgens die Zähne putze, mache ich auch meine Dehnungs- und Standgymnastik. Das ist so drin. Und wenn ich Zeit habe, mache ich mit meiner Frau Nordic Walking.

Hätten Sie rückblickend etwas anders machen wollen?
Behrendt: Ich hätte mir gewünscht, die Funktionäre hätten mich nach dem Olympiasieg nicht gleich wieder in die Kämpfe geschmissen. Die Sowjets waren da schlauer, deren Sieger haben ein halbes Jahr pausiert. Vielleicht hätte ich mir dann auch nicht die Pfoten kaputt gehauen.

Kein Neid, wenn Sie sehen, was Sportler heute verdienen?
Schult: Nein, ich habe in den 90er Jahren gut verdient. Meinen Abschied bei Olympia 2000 in Sydney konnte ich sehr genießen.
Behrendt: Ich weiß nicht, ob Geld so glücklich macht. Meiner Frau und mir graut fast davor, mal im Lotto zu gewinnen. Wer weiß, was für Sorgen wir dann hätten.

Gespräch: Jirka Grahl, Jürgen Holz, Michael Müller

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.