Die Wut auf die EU sucht sich ihr Ventil

Dave Nellist spricht sich für den Brexit aus. Die Europäische Union ist in ihren derzeitigen Strukturen nicht reformierbar

  • Dave Nellist
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Referendumskampagne wird auf beiden Seiten dominiert von rechten Politikern, von Vertretern des Big Business. Sie laufen sich gegenseitig den Rang ab in der Frage, wer den weitestgehenden Anti-MigrantInnen-Standpunkt einnimmt. Premier David Cameron brüstet sich mit den Zugeständnissen, die er der EU abgerungen hat. Sie sollen es ermöglichen, den Zugang zu Sozialleistungen für EU-Bürger für vier Jahre auszusetzen. Führende Labour-Mitglieder setzen noch einen drauf und fordern von der EU die Wiedereinführung von Grenzen und stärkere Kontrollen, um »wirtschaftliche Migration« einzudämmen.

Es besteht die Gefahr, dass es – egal welche Seite gewinnt – zu einem Anwachsen von Rassismus und rassistischen Übergriffen kommen wird. Es sieht stark danach aus, dass der Mörder der Labour-Abgeordneten Jo Cox Verbindungen zu extrem rechten Organisationen unterhielt. Im Nachgang des Referendums ist es darum notwendig, dass die ArbeiterInnenbewegung eine starke Kampagne gegen die Tory-Partei, Kürzungspolitik und Rassismus führt.

Die Stimme der »kleinen Leute« wurde im Wahlkampf für das Referendum am Donnerstag kaum gehört. Gleichzeitig gab es wachsende Unterstützung für die Exit-Seite. Viele WählerInnen aus der Arbeiterklasse sehen das Referendum als Chance, gegen Cameron, das kapitalistische Establishment und alles zu protestieren, unter dem sie in den letzten Jahren gelitten haben: niedrige Löhne, Prekarisierung, das Fehlen bezahlbaren Wohnraums sowie die Aushöhlung der Daseinsfürsorge.

Eine Umfrage zeigte, dass 60 Prozent der ArbeiterInnen beabsichtigen, für den Austritt zu stimmen. Das hat mit der weit verbreiteten Einsicht zu tun, dass ein »Brexit« mit großer Wahrscheinlichkeit zum Sturz Camerons und möglicherweise seiner gesamten Regierung führen wird.

Es ist bedauerlich, dass die Mehrheit der Gewerkschaftsführungen und auch die Führung von Labour für den Verbleib in der EU werben. Ich denke, dass das ein großer Fehler ist. Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn war in der Vergangenheit gegen die EU – genau wie Tony Benn und die Mehrheit der Labour-Linken, die die EU stets als undemokratische »Arbeitgeberunion« beschrieben. Die Wiederverstaatlichung der Bahn, die Corbyn fordert, wäre etwa ein Verstoß gegen bestehendes EU-Recht.

Leider hat Corbyn dem Druck des Blair-Flügels nachgegeben. Damit macht er sich mitverantwortlich dafür, dass sich die Wut auf die EU und die Cameron-Regierung vor allen Dingen über die rechten Befürworter eines »Brexit« kanalisiert. Cameron merkt, dass das Anti-Brexit-Lager mit jeder Rede, die er hält, Stimmen verliert. Darum schiebt er nun Corbyn vor. Ihm könne nicht vorgeworfen werden, dass ein Verbleib nur im Sinne des Establishments wäre.

Die Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC) hat hingegen gemeinsam mit anderen eine sozialistische Argumentation für den Austritt entwickelt. Einige derjenigen, die unsere Kritik an der EU teilen, sagen, es sei besser zu bleiben und die EU zu reformieren. Sie beantworten allerdings die Frage nicht, wie das angesichts der völlig undemokratischen Struktur der EU zu realisieren wäre. Die EU nimmt den tausendfachen Tod von Flüchtlingen in Kauf. Die EU-Institutionen waren gnadenlos gegenüber der griechischen Bevölkerung. Die EU ist ein kapitalistisches Projekt, das die Einheit zwischen Nationen von oben erzwingt und im Interesse des einen Prozents und nicht der 99 Prozent agiert.

In den letzten Jahren haben die EU-Institutionen vor allem den ökonomisch schwächeren Mitgliedsstaaten Kürzungs- und Privatisierungsprogramme verordnet. Die Regierungen dieser Länder haben die Regeln der EU vorgeschoben, um ihre eigene Politik zu rechtfertigen. Das unvermeidliche Resultat ist ein Anwachsen nationaler Ressentiments, mit denen die Menschen ihre Rebellion gegen die nicht enden wollende Austeritätspolitik zum Ausdruck bringen.

Wir akzeptieren deshalb das Argument nicht, dass die EU angeblich Internationalismus befördere. Wahrer Internationalismus bedeutet doch auf Arbeitereinheit basierende Solidarität in ganz Europa. Und die Arbeiterklasse in ganz Europa hat viele gemeinsame Interessen - überall müssen wir uns gegen niedrige Löhne oder Kürzungen zur Wehr setzen. Also gegen die Politik der EU.

Sozialisten sind Internationalisten. Wir stehen für die größtmögliche Einheit der abhängig Beschäftigten in Europa. Aber diese Einheit ist nur möglich auf der Grundlage des demokratischen Sozialismus, der die giftigen Spaltungen mit Hilfe echten Internationalismus‘ ausmerzen kann. Das kann den Grundstein legen für den Aufbau einer freiwilligen sozialistischen Föderation, die den gesamten Kontinent umspannt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal