Labour-Abgeordneter will Brexit stoppen

Nach dem Brexit: Fast zwei Millionen Briten wollen noch einmal abstimmen / Frankreich fordert neuen Premier binnen Tagen / Kommt die »flexible Union«?

  • Lesedauer: 9 Min.

Updatw 19 Uhr: Belgier soll Brexit aushandeln
Der belgische Diplomat Didier Seeuws soll im Auftrag der EU die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien führen. Seeuws sei zum Leiter der »Brexit Task Force« ernannt worden, sagte ein Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk am Samstag der Nachrichtenagentur AFP. Er bereite sich bereits darauf vor. Der 50-jährige Belgier leitet derzeit das Ressort für Verkehr, Telekommunikation und Energie im Europäischen Rat. Zuvor war er Sprecher des ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt sowie langjähriger Mitarbeiter des ehemaligen EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy.

Update 18.45 Uhr: Labour-Abgeordneter will Brexit stoppen
Der Labour-Abgeordnete David Lammy will den Brexit mit einer Abstimmung im britischen Unterhaus verhindern. »Wacht auf. Wir müssen das nicht machen«, schrieb Lammy aus dem Wahlkreis Tottenham am Samstag auf Twitter. »Wir können diesen Wahnsinn stoppen und diesen Alptraum mit einem Votum im Parlament beenden.« Schließlich sei das Referendum rechtlich nicht bindend. Der Politiker forderte eine Abstimmung schon in der kommenden Woche. Lammy erklärte weiter, »lasst uns nicht unsere Ökonomie von Lügen und der Hybris eines Boris Johnson kaputtmachen«. Letzterer war einer der Wortführer der Brexit-Kampagne und gilt als aussichtsreicher Bewerber um die Nachfolge von Premier David Cameron.

Gegenüber dem österreichischen »Standard« sagte der Europa-Experte Nicolai von Ondarza, »rechtlich ist das Referendum überhaupt nicht bindend.« In Großbritannien gelte »die absolute Parlamentssouveränität. Demnach ist dieses Referendum rechtlich nicht mehr als eine Meinungsäußerung der britischen Bevölkerung«. Von Ondarza wies aber darauf hin, dass die Abstimmungsfrage sehr klar gestellt gewesen war und die Wahlbeteiligung höher lag als bei nationalen Parlamentswahlen in den 1950er-Jahren. »Politisch ist die Bindewirkung der Abstimmung sehr stark. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine britische Regierung diesen Entscheid der Bevölkerung ignorieren kann«, so der Vizeleiter der Forschungsgruppe EU/Europa der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik.

Obwohl es rechtlich für das Parlament möglich ist, den Weg des Brexits nicht zu verfolgen, würde dies jene wütend werden lassen, die für den Austritt aus der EU votiert haben, merkt der »Independent« mit Blick auf das demokratisch zustande gekommene Votum an. Nachdem die Briten mit 52 Prozent für den Ausstieg aus der EU gestimmt hatten, zeigten sich auch viele Brexit-Wähler über den Ausgang erschrocken. Zudem forderten inzwischen fast zwei Millionen Briten per Petition ein zweites Referendum, da die Wahlbeteiligung mit rund 72 Prozent zu niedrig und das Ergebnis zu knapp gewesen seien.

Update 16.40 Uhr: Gabriel will EU »sozialer und gerechter«
SPD-Parteichef Sigmar Gabriel forderte, Europa müsse zur Überwindung der Vertrauenskrise sozialer und gerechter werden. Es gebe eine »massive Spaltung zwischen Gewinnern und Verlieren« in der Europäischen Union, sagte der Wirtschaftsminister in Bonn zum Auftakt einer Reihe von SPD-Regionalkonferenzen. Rund 25 Millionen Menschen suchten in Europa Arbeit, darunter viele junge Leute. Das sei »verheerend«, betonte Gabriel. »Da geht die Idee Europas verloren« - und das erzeuge Wut und Verachtung. Gabriel schloss eine Rückkehr Großbritanniens in die EU nicht aus. »Fast drei Viertel der unter 25-Jährigen wollten in der EU bleiben. Wir dürfen die Zugbrücke nicht hochziehen«, sagte Gabriel den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Sonntag). »Wir müssen der jungen Generation auf beiden Seiten des Kanals die Chance geben, wieder zusammenzurücken.«

Update 16.35 Uhr: Frankreich fordert neuen Premier binnen Tagen
Deutschland und die anderen fünf Gründerstaaten der Europäischen Union machen nach dem Brexit-Votum massiv Druck auf London, rasch Verhandlungen über einen Austritt Großbritanniens aus der EU zu starten. »Dieser Prozess sollte so bald wie möglich losgehen, dass wir nicht in eine längere Hängepartie geraten«, sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nach einem Außenministertreffen der sechs EU-Staaten am Samstag in Berlin. Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault forderte einen neuen britischen Regierungschef »innerhalb weniger Tage«. Der Amtsinhaber, Großbritanniens Premier David Cameron, hatte seinen Rücktritt bis spätestens Oktober angekündigt. Die Austrittsverhandlungen mit Brüssel solle dann sein Nachfolger führen. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verlangte von der britischen Regierung Auskunft über das weitere Vorgehen im anstehenden konkreten Scheidungsprozess mit der EU. »Ehrlich gesagt, soll es nicht ewig dauern (...), aber ich würde mich jetzt auch nicht wegen einer kurzen Zeit verkämpfen«, sagte Merkel in Potsdam. Solange die britische Regierung den Antrag auf einen Austritt aus der EU nicht gestellt habe und das entsprechende Abkommen nicht fertig sei, sei das Land mit allen Rechten und Pflichten weiterhin EU-Mitglied.

Update 16.30 Uhr: Über 1,5 Millionen Briten wollen noch einmal abstimmen
52 Prozent für den Brexit - ist das zu wenig? Mehr als 1,5 Millionen Briten wollen angesichts des knappen Ergebnisses beim EU-Referendum noch einmal abstimmen. Eine offizielle Online-Petition an das Parlament in London knackte am Samstagvormittag die Millionenmarke, innerhalb weniger Stunden kamen weitere 500.000 digitale Unterschriften dazu. Bereits 100.000 Unterstützer reichen aus, damit das Parlament eine Debatte »in Betracht ziehen« muss, wie es auf der Webseite heißt. Die Unterzeichner fordern, dass es ein neues Referendum geben solle, wenn die Wahlbeteiligung unter 75 Prozent liegt oder weniger als 60 Prozent der Wähler für oder gegen den Brexit stimmen - beide Bedingungen treffen auf das Ergebnis des Referendums zu. Online ist die Petition bereits seit Ende Mai. Nachdem am Freitag deutlich wurde, wie gespalten das Land in der EU-Frage ist, schoss die Zahl der Unterstützer in die Höhe. Für das Referendum hatten sich insgesamt rund 46,5 Millionen Wähler registriert.

Update 14.00 Uhr: Britischer EU-Kommissar tritt zurück
Der britische EU-Kommissar Jonathan Hill ist zurückgetreten. Er zog damit die Konsequenz aus dem Wahlsieg des Brexit-Lagers beim britischen EU-Referendum, wie die Nachrichtenagentur PA am Samstag berichtete.

Update 12.30 Uhr: Belgier soll Brexit aushandeln
Der belgische Topdiplomat Didier Seeuws soll auf europäischer Seite die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien führen. Seeuws werde im EU-Ministerrat die sogenannte Brexit-Task-Force leiten, berichteten Diplomaten am Samstag in Brüssel. Sie bestätigten damit einen Bericht der belgischen Tageszeitung »Het Nieuwsblad«. Seeuws war bis Ende 2014 Kabinettschef des damaligen EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy. Zur Zeit hat er einen Direktorenposten im EU-Ministerrat inne, der Vertretung der Mitgliedstaaten in Brüssel.

Juncker gibt Cameron Verantwortung für Brexit-Ergebnis

Berlin. Nach dem Votum für den Brexit sind in Berlin die Außenminister aus den sechs Gründerstaaten der Europäischen Union - damals hieß das Bündnis noch EWG - zu Beratungen über die Folgen zusammengekommen. Im Zentrum der Gespräche dürfte ein Vorstoß von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und seinem französischen Kollegen Jean-Marc Ayrault stehen, in dem beide für eine »flexible Union« werben. Über den Vorstoß berichten mehrere Medien, unter anderem die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«. Mit der Idee soll für Partnerländer Raum gelassen werden, die weitere Integrationsschritte noch nicht mitgehen können oder wollen. Es geht dabei auch um die Verteilung der Rollen in einem Europa ohne Großbritannien.

»Europa braucht jetzt Orientierung. Da stehen Frankreich und Deutschland besonders in der Verantwortung«, wird Steinmeier in dem Blatt zitiert. »Deutschland und Frankreich nehmen mit Bedauern zur Kenntnis, dass das britische Volk für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU gestimmt hat«, heiße es in dem Papier. Jetzt sei es die gemeinsame Pflicht beider Länder, daran zu arbeiten, dass eine ähnliche Entwicklung »sich nicht andernorts in Europa wiederholt«.

Es gehe aber nicht um ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, sagte Steinmeier im ZDF. Bei der deutsch-französischen Initiative gehe es vielmehr um eine Antwort auf die Frage: »Was ist jetzt eigentlich die Botschaft, mit der wir in die nächsten Tage und die nächsten Monate gehen.« Denn eines erlaube der Ausgang des britischen Referendums nicht: »Dass wir jetzt einfach die Botschaft überhören und den nächsten großen Integrationsschritt gehen.« Der deutsch-französische Vorstoß sei noch »nicht der Stein der Weisen«, so Steinmeier im ZDF. »Da wird viel anderes an Anregungen hinzukommen.« Nach Ansicht des Bundesaußenminister stehen die Europäer nach dem Brexit-Votum vor einer schwierigen Aufgabe: »Es wird nicht ganz einfach sein, aus dieser Krise herauszukommen.«

Die Runde der Außenminister präsentiert die sechs Staaten, die 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet hatten - die Vorläuferorganisation der EU. Aus anderen Ländern, die nicht dabei sind, gibt es Kritik an dem Treffen. Mehrfach hat Steinmeier (SPD) am Freitag seine Enttäuschung über den Ausgang des britischen EU-Referendums betont - sein Mitarbeiterstab hat sich hingegen dazu entschlossen, den Ärger mit Alkohol zu bekämpfen. »Wir gehen jetzt in einen irischen Pub und betrinken uns«, twitterte das Auswärtige Amt am Freitagabend. Ob Steinmeier selbst mit von der Partie war, verriet das Ministerium nicht. Gleichwohl versprachen die Diplomaten für Samstag wieder vollen Tatendrang: »Ab morgen arbeiten wir dann wieder für ein besseres Europa. Versprochen!«, hieß es in dem Twitter-Eintrag weiter.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat der Bundesrepublik eine noch bedeutendere Rolle in der EU nach dem Brexit prophezeit. Er sagte der »Bild«-Zeitung vom Samstag, Deutschland werde auch weiterhin »eine zentrale, wenn nicht sogar eine noch wichtigere Rolle in der Europäischen Union spielen«. Zu Befürchtungen, die EU werde künftig von einer Achse Paris-Rom-Madrid bestimmt, sagte er, genauso wenig wie die EU bisher von Großbritannien bestimmt worden sei, werde sie künftig von einem anderen Trio geleitet werden. Zum Ausgang des Referendums in Großbritannien sagte Juncker, die EU müsse die Chance nutzen, »klüger aus dieser Situation hervorzugehen«. Beim kommenden EU-Gipfel müsse darüber debattiert werden, »wie wir besser auf die Sorgen der Menschen in Europa eingehen und populistischen Bewegungen mit vereinten Kräften und entschieden entgegenwirken können«. Mögliche Referenden zu einem EU-Austritt auch in anderen Mitgliedsländern seien nicht auszuschließen.

Die Briten hatten am Donnerstag über die Zukunft ihres Landes in der EU abgestimmt und sich mehrheitlich für einen Austritt aus dem Staatenbund ausgesprochen. Das Brexit-Lager kam auf knapp 52 Prozent der Stimmen. US-Präsident Barack Obama hat nach der Brexit- Entscheidung Großbritanniens mit Premierminister David Cameron und Bundeskanzlerin Angela Merkel telefoniert. Die USA würden sich mit den europäischen Verbündeten weiter abstimmen. Er sei sich mit Cameron darin einig, dass das Land einen geordneten Ausstieg aus der Europäischen Union sicherstellen werde. Der Präsident sagte, Merkel und er seien der Ansicht, dass die europäischen Partner und die USA in den kommenden Monaten eng zusammenarbeiten müssten. Aus dem Weißen Haus hieß es später, der Präsident und Merkel hätten sich gegenseitig versichert, dass Deutschland und die EU unentbehrliche Partner der USA blieben.

Juncker machte derweil Premier Cameron mitverantwortlich für das Ergebnis des Referendums, das nicht verwunderlich sei. »Wenn jemand von Montag bis Samstag über Europa schimpft, dann nimmt man ihm auch am Sonntag nicht ab, dass er überzeugter Europäer ist«, sagte Juncker der »Bild«-Zeitung. Die EU habe ihrerseits »alles getan«, um Camerons Positionen entgegen zu kommen, sagte er mit Blick auf Reformen, die Großbritannien im Fall eines EU-Verbleibs zugesagt worden waren. Agenturen/nd

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