Kurs nach Stimmung - ein Übel der Demokratie

Heiner Geißler hält Stimmungsentscheidungen für die falsche Grundlage der Politik und aus diesem Grund die SPD für keine Volkspartei

  • Lesedauer: 6 Min.

Haben Sie Verständnis dafür, wenn Kollegen aus dem konservativen Lager Ihrer Partei sagen, sie könnten es nicht mehr vertreten, den Bürgern ihres Wahlkreises immer wieder das Gegenteil dessen zu sagen, was noch vor wenigen Jahren im Regierungsprogramm stand?
Nein, dafür habe ich überhaupt kein Verständnis. Die CDU ist ja nicht die katholische Kirche. Die CDU ist eine Partei, die den Anspruch hat, konkrete Probleme zu lösen und auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zu reagieren. Und zwar klug und verantwortlich auf der Grundlage eines ethischen Fundaments. Man kann doch nach Fukushima, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht dieselbe Energiepolitik vertreten wie zuvor.

Ausstieg aus der Atomkraft, Abschaffung der Wehrpflicht, Kurswechsel in der Sozialpolitik - was antworten Sie all jenen CDU-Mitgliedern, die sagen, die Partei habe sich in den vergangenen Jahren zu schnell verändert?
Das ist eine Frage der Intelligenz und der argumentativen Führungskraft. Es wird immer Leute geben, die auf der Bremse stehen und sich grundsätzlich gegen jegliche Veränderung sträuben. Andere wiederum brauchen nur etwas länger. Eine Parteiführung sollte darauf Rücksicht nehmen. Das heißt allerdings nicht, dass sie auf unbegründete Sorgen und dumme Argumente eingehen muss.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Wirtschaftswelt hat sich verändert, die meisten Familien kommen inzwischen nur dann über die Runden, wenn beide Eltern arbeiten; früher dagegen reichte häufig ein Einkommen. Die logische Folge: Die Politiker müssen eine andere Familienpolitik machen, die auch die berufstätigen Frauen umfasst. Ich kann von jedem CDU-Mitglied erwarten, dass er dies erkennt und entsprechend handelt. Ein anderes Beispiel: Wir haben es mit einer Flüchtlingswelle zu tun, die ausgelöst wurde durch Bürgerkriege und ein globales System der Ausbeutung. Da kann man als verantwortlicher Politiker doch nicht eine Ausländerpolitik machen wie vor dreißig Jahren!

Im Regierungsprogramm 2006 hieß es unter anderem «Mehr Zuwanderung ist nicht verantwortbar, … »sie würde den inneren Frieden gefährden«. Die Rede war von »Liebe zu unserem Land«, »Identifikation mit der Nation«, es ging »gegen die multikulturelle Gesellschaft«. Herr Geißler, was ist falsch daran, wenn AfD-Politiker sagen, sie verträten viele Kernpositionen der »alten CDU«?
Wir leben nicht mehr im Jahre 2006. Die Welt hat sich verändert. Zur Nation gehören schon lange nicht mehr nur »Bio-Deutsche«, sondern alle, die eingebürgert sind. Alle müssen sich auf den Boden des Grundgesetzes stellen. Mit anderen Worten: Keine Parallelkulturen, in denen andere Regeln gelten; die Scharia darf nicht über dem Gesetz stehen.

Sie halten das jetzt beschlossene Integrationsgesetz für sinnvoll?
Das ist absolut richtig. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass wir genauso große Probleme mit der Integration so mancher deutscher Staatsbürger haben. Dass Flüchtlinge Häuser anzünden, weil Deutsche darin wohnen, habe ich noch nicht gehört. Und nur nebenbei: Einige Aussagen der AfD sind nicht weniger schlimm als die der Islamisten.

Was raten Sie Ihren Parteikollegen im Umgang mit der AfD?
Der AfD geht es darum, genauso wie den britischen Brexiteers, die Menschen aufzuhetzen. Ich gehe davon aus, dass sich das bis zur Bundestagswahl noch zuspitzen wird. Die Union muss sich dagegen wehren, sie darf sich nicht treiben lassen. Keine emotionale Auseinandersetzung mit der AfD, sondern stets eine inhaltliche. Ob Sozial-, Renten- oder Europapolitik: Die Vorstellungen der AfD sind schlicht absurd. Das muss man den Wählern aufzeigen.

Die AfD liegt in den Umfragen derzeit bei 14 Prozent.
Die Demoskopie ist ein flüchtiges Reh. Die Stimmung, die sie erforscht, kann in zwei Monaten eine ganz andere sein. Ich halte es für gefährlich, wenn Politiker ihre Politik danach ausrichten. Leider ist die Bedeutung der Meinungsforschung in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Auch Journalisten argumentieren immerfort mit Stimmungswerten. Das ist ein großes Übel unserer Demokratie. Die Bürger erwarten politische Führung, eine glaubwürdige, seriöse und verantwortliche Regierungspolitik. Und keinen Zickzackkurs auf Grundlage irgendwelcher Umfragen.

Wären Sie auch so gelassen, wenn Sie CDU-Spitzenkandidat in Berlin oder Mecklenburg-Vorpommern wären? In beiden Ländern liegt die CDU zurzeit unter 25 Prozent; und im Herbst stehen die Wahlen an.
Es hat schon immer Aufholjagden und Überraschungen gegeben. Die Demoskopie bietet uns lediglich eine Orientierung. Ich habe in meiner Rolle als Bundesminister und Generalsekretär niemals die Politik, von der ich überzeugt war, geändert, weil die Umfragewerte sanken. Das wäre ja lächerlich.
Am Beispiel der SPD sehen wir, was passiert, wenn man sich fast ausschließlich von Stimmungen leiten lässt. Anstatt das zu tun, was nötig ist, starren die Herrschaften von Woche zu Woche auf die Entwicklung der Umfragewerte. Das spüren die Menschen. Wenn die SPD so weitermacht, kommt sie bei der nächsten Wahl nicht über die 20-Prozent-Marke hinaus.

Bleiben wir kurz dabei: Wo liegt aus Ihrer Sicht das Hauptproblem der SPD?
Gerhard Schröder hat mit der Agenda 2010 die Seele der eigenen Partei verraten. Er hat in einem Husarenritt kurzfristig den damals vorherrschenden wirtschaftswissenschaftlichen und neoliberalen Forderungen entsprochen, mit sechs Millionen Minijobs, Zeitarbeit und befristeten Arbeitsverträgen. Und damit das Grundvertrauen der traditionellen SPD-Wähler zerstört. Die SPD ist längst keine Volkspartei mehr.

Tut der Vorsitzende der SPD, tut Ihnen Sigmar Gabriel leid?
(Pause) Ja, und zwar deshalb, weil er in seiner wichtigsten Aufgabe missverstanden wird.

Inwiefern?
Die SPD macht doch eine gute Regierungsarbeit. Sie hat in der Koalition sozialpolitische Verbesserungen durchgesetzt und stellt mit Frank-Walter Steinmeier einen anerkannten Außenminister; viele außenpolitische Erfolge hätte die Kanzlerin nicht ohne Steinmeiers Engagement erreicht. Es ist mir ein Rätsel, weshalb die Sozialdemokraten ihre Erfolge nicht stärker herausstellen.

Viele SPD-Politiker würden Ihnen jetzt wohl antworten: Genau das tun wir ja seit Monaten, und zwar ohne Erfolg.
Das ist mir zu wehleidig. Sätze wie: »Wir sagen das ja immer, aber es findet kein Echo in der Bevölkerung« bringen gar nichts. Da gilt der Satz von Max Weber: »Politik ist ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.« Wenn man einen Kompass hat und überzeugt ist von dem, was man tut, dann muss man aufrecht bleiben und darf nicht aufgeben, wenn etwas mal nicht sofort funktioniert. Nicht immer den Umfragewerten hinterherjammern und hektisch in verschiedene Richtungen laufen.

Was heißt das für Sigmar Gabriel?
In diesem Punkt tut er mir nicht leid. Er sollte in der Lage sein, in seinem Laden für Ordnung zu sorgen. Die Kommunikation wirkt grottenschlecht. Gabriel müsste die Funktionärstypen, die es freilich in jeder Parteizentrale gibt, an die Kandare nehmen. Es kann doch nicht sein, dass ebenjene immer wieder gegen den Parteichef arbeiten.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.