Blinder Fleck in Lohndebatte

Streit nur über eine Seite des Nationaleinkommens

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Als das Statistische Bundesamt Ende Mai die Daten zum deutschen Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal veröffentlichte, staunten Leute, die sich gerne tief in wirtschaftliche Zahlenwerke vergraben, nicht schlecht: Das Arbeitnehmerentgelt war um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Es handelte sich nicht nur um einen der höchsten Anstiege der Bruttolöhne seit erdenklichen Zeiten, er war auch mehr als doppelt so hoch wie der bei den Kapitaleinkünften. Das hatte es in den vergangenen 20 Jahren nur einmal gegeben: direkt nach dem Finanzkrisencrash.

Das Erstaunliche blieb weitgehend unbemerkt. Vielleicht, weil in Deutschland seit Langem nur über die Höhe der Löhne gestritten wird. Während die Unternehmerseite und neoliberale Ökonomen die Gehälter am liebsten nicht steigen oder gar sinken lassen möchte, fordern Gewerkschafter und keynesianisch orientierte Wirtschaftswissenschaftler ein Ende der langen Phase mit »moderaten« Lohnrunden, die in der Ära Kohl begann und während der Hartz-Reformen ihren traurigen Höhepunkt erreichte. Über die andere Seite des Nationaleinkommens herrscht indes weitgehend Schweigen: die Unternehmens- und Vermögenseinkommen. Dabei bekommt man über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes erst dann einen Überblick, wenn man beide Größen zusammenrechnet. Und doch scheint die eine politisch erkämpft oder gemäß ökonomischem Sachverstand festgelegt zu sein, die andere vom Himmel zu fallen.

Das ist Unsinn: Es geht um die Frage, wie das Nationaleinkommen zwischen Arbeit und Kapital verteilt ist und wer vom Anstieg profitiert. Laut Statistik wurden seit 1995 fünf Prozent zugunsten der Kapitalbezieher umverteilt. Der jahresdurchschnittliche Anstieg betrug bei den Bruttolöhnen rund zwei Prozent, bei Unternehmens- und Vermögenseinkommen 3,7 Prozent. Das kann ein Quartal, in dem es mal anders läuft, nicht übertünchen. Kurt Stenger

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