Geduldsspiel Familiennachzug
Immer mehr Flüchtlinge warten immer länger darauf, ihre Angehörigen nach Deutschland zu holen
Betroffen sind Mütter, die ihre Kinder zurücklassen mussten. Ehepaare, die auf der Flucht getrennt wurden. Kinder, die auf ihre Eltern warten. Flüchtlinge in Deutschland haben das Recht darauf, ihre engsten Angehörigen nachzuholen. Zumindest Theoretisch. Eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung ergab nun, dass zehntausende Syrer oft Monate oder Jahre warten müssen, bis sie ihre Familie wiedersehen.
Die LINKE-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke hatte bei der Bundesregierung nach dem Status Quo der Familienzusammenführung von Syrern erfragt. Die Antwort, die »nd« vorliegt, zeugt von einer großen bürokratischen Überforderung deutscher Behörden. So müssen Syrer, die sich um ein Visum zur Familienzusammenführung bemühen, bei den Konsulaten und Botschaften in Jordanien und Ägypten vier bzw. fünf Monate warten, bis sie überhaupt einen Termin bekommen. Noch dramatischer ist die Situation in Libanon: Bei der deutschen Botschaft in Beirut beträgt die Wartezeit für Syrer derzeit rund 15 Monate. Zum Vergleich: Anfang des Jahres mussten Syrer »nur« neun Monate auf einen Termin warten. Für die Botschaft und die Konsulate in der Türkei konnte die Bundesregierung keine Angaben machen.
Aber auch für die Menschen, die einen Termin bekommen haben, ist die Wartezeit nicht zu Ende. In ihrer Antwort räumt die Bundesregierung ein, dass weitere Monate vergehen können, bis ein Visum tatsächlich ausgestellt wird. Insgesamt betrifft der Bearbeitungsstau bei den deutschen Auslandsvertretungen nach Angaben der Bundesregierung derzeit allein in der Türkei und in Libanon rund 90 000 Anträge. Da sich hinter einem Antrag auch mehrere Personen verbergen könnten, ist die Zahl betroffener Menschen möglicherweise noch deutlich größer.
Ulla Jelpke kritisiert die langen Wartezeiten: »Die Maßnahmen, die die Bundesregierung bislang zur Beschleunigung des Familiennachzuges für Flüchtlinge getroffen hat, reichen hinten und vorne nicht aus.« Bisherige Versuche, das Verfahren zu beschleunigen bezeichnet Jelpke als »lächerlich und unverantwortlich«. Das Erlangen eines Termins sei für viele Syrer »reine Glückssache«. Viele Syrer könnten ihre Termine bei den deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei außerdem nicht wahrnehmen, da die Türkei ihre Grenzen geschlossen halte.
Das Recht auf Familienzusammenführung wird Flüchtlingen im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes gewährt. Für die meisten Syrer ist sie die einzige Möglichkeit auf legalem Wege nach Deutschland einzureisen. Sie gilt für Kinder, Ehepartner und die Eltern von minderjährigen Flüchtlingen, die in Deutschland bereits einen Aufenthaltsstatus erlangt haben. Da die Bundesregierung ihre Auslandsvertretungen in Syrien geschlossen hat, müssen die meisten Syrer das nötige Visum in einem der Nachbarländer, Türkei, Jordanien oder Libanon beantragen.
Mit Prognosen über Millionen weitere Flüchtlinge, die über den Familiennachzug nach Deutschland kommen könnten, hatten Politiker und Medien in den vergangenen Monaten immer wieder Ängste geschürt. Zumindest für sie gibt die Antwort der Bundesregierung Entwarnung: So wurden im Jahr 2015 insgesamt 21 376 Visa zum Familiennachzug an Syrer ausgestellt. Im ersten Quartal 2016 waren es 8852. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rechnet mit einer Zahl von 0,9 bis 1,2 Angehörigen, die für jeden registrierten Flüchtling zusätzlich nach Deutschland kommen. Zwar hatte die Bundesregierung im vergangenen Jahr angekündigt, das Verfahren zum Familiennachzug beschleunigen zu wollen. Gleichzeitig wurden allerdings auch die rechtlichen Hürden erhöht. So bekommen seit Anfang 2016 immer mehr syrische Flüchtlinge nur noch den schlechteren sogenannten subsidiären Flüchtlingsstatus. Ihre Angehörige müssen von vornherein zwei Jahre warten, bis sie überhaupt einen Antrag stellen können.
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