Europa wird gemacht - es geht voran

Martin Schirdewan sieht im Brexit einen Sieg für die europäische Rechte, aber auch eine Chance für ein anderes Europa

  • Martin Schirdewan
  • Lesedauer: 3 Min.

Theresa May muss jetzt als neue Premierministerin und eigentliche Brexit-Gegnerin das Votum der britischen Bevölkerung, Großbritannien aus der EU zu führen, umsetzen. Obwohl sie sich damit wohl mehr Zeit lassen wird als den europäischen zukünftigen Ex-Partnern lieb ist, hat sie angekündigt, den Auftrag von 51,9 Prozent der BritInnen auszuführen.

Erste Turbulenzen an den Finanzmärkten scheinen überstanden, dennoch bleibt die Unsicherheit darüber erhalten, wie sich der Brexit auf die ökonomische Entwicklung auf der Insel und auf dem europäischen Festland auswirken wird. Nur eines scheint derzeit klar: Alte Gewissheiten haben mit der Verkündung des Ergebnisses des Referendums ihre Gültigkeit verloren. Wohin sich die EU und der Prozess der europäischen (Des-)Integration weiterentwickeln werden, ist völlig offen, seit sich die drittgrößte EU-Volkswirtschaft auf Abschiedstournee von Brüssel und Straßburg begeben hat.

Trost bietet das Wissen, dass Geschichte nach vorn immer offen und gestaltbar ist. Weniger tröstlich ist, dass Geschichte nicht auf die Linke wartet, ihre Position zum Brexit und zur Zukunft der EU und ihrer Integration zu klären. Sie wird gemacht.

Das Ergebnis des Referendums wird sich wie die entfesselte Kraft einer Sturzflut auf die müden Mühlen der europäischen Rechten auswirken. Erste Ankündigungen, sich für ähnliche Austrittsreferenda einzusetzen, erklingen seitdem aus den Niederlanden, Frankreich und Italien. Man muss wahrlich kein Prophet sein, um verkünden zu können, dass die europäische Rechte die eigentliche Siegerin des Referendums ist. Antieuropäische nationalistische Positionen werden gestärkt. Jede nationale Wahlkampagne bis zur kommenden Europawahl 2019 wird von rechts durch die Austrittsforderung geprägt sein.

Zudem laufen der Insel die Banker davon. London kann seine Rolle als führender Finanzplatz in der EU nicht mehr ausüben. Frankfurt am Main und Paris werden als Börsensitze an Bedeutung gewinnen. Je größer der Anteil der Finanzwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt, desto größer auch deren Fähigkeit, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Der finanzmarktgetriebene autoritäre Neoliberalismus könnte so zum immanenten Wesensmerkmal in der gesellschaftlichen Entwicklung Kerneuropas werden. Die Finanzialisierung einer Gesellschaft - das lehrt ausgerechnet Großbritannien - hat bisher stets zu einem Abbau industrieller Kerne und damit zur Schwächung der Gewerkschaften beigetragen. Noch weniger Sozialstaat?

Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten und verschiedener Integrationsstufen entwickelt sich. Ein Kerneuropa, dessen Interessen in der Absicherung seiner ökonomischen Stärke nach außen besteht, wird dominant seine wirtschaftlichen Bedürfnisse gegenüber der europäischen Peripherie, dem schwächeren Osten etc. exekutieren. Schon einen Tag nach dem Referendum trafen sich die Außenminister der sechs Gründerstaaten der EG und verprellten so (wieder einmal) die Länder Mittelosteuropas und des europäischen Südens. Industrie 4.0, der digitale Binnenmarkt des Günther Oettinger, diversifizierte Wertschöpfungsketten, ungleiche Verteilung des Mehrwerts, ungleiche Fähigkeit, in ökonomische Innovation und soziale gesellschaftliche Bedürfnisse zu investieren sind die Kennzeichen dieses europäischen Entwicklungsmodells, das den Anspruch an eine einigermaßen gleiche Entwicklung seiner Mitglieder nicht mehr kennt.

Wie sähe eine Alternative aus? Die verbleibenden 27 Mitglieder erkennen den höheren Wert ihres gemeinsamen Projekts an. Den Griech*innen wird geholfen, es kommt zu einer Schuldenreduzierung, sozialstaatliche Elemente werden in die Gemeinschaftspraxis implementiert anstatt brutaler Austerität. Die europäische Sozialdemokratie/Sozialisten lernen den aufrechten Gang, sie entfremden sich endlich vom Neoliberalismus ihrer Brioni-tragenden Vorväter. Eine Änderung der Machtverhältnisse tritt ein, Vertragsänderungen und ein echter Politikwechsel in Richtung eines sozialen, friedlichen und demokratischen Europas stehen an, der gemeinsam von den progressiven gesellschaftlichen Kräften durchgesetzt wird.

Das klingt wie ein Traum und wird angesichts des exemplarischen Machtkampfes in der Labour-Partei und des Lavierens der deutschen Sozialdemokratie wohl auch einer bleiben. Doch wir wissen: Prosperität und Frieden wird es in Europa nur geben, wenn dieses ein soziales ist.

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