Was machen Stolpersteine bei Pokémon Go?

Digitale Spiele im öffentlichen Raum und das Potential zum Missbrauch

  • Jörg Reisig
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Straßenpflaster vor meiner Haustür sind zwei »Stolpersteine« eingelassen, die an die Verbrechen der Nazis an einem jüdischem Ehepaares erinnern. Was das mit dem Sommertrend in der Smartphone-Spielewelt zu tun hat? Für die Monsterjagd bei »Pokémon Go« müssen die Spieler an erstaunlich viele politisch sensible Orte gehen – auch Stolpersteine. Das ist kein Zufall.

Als Spieleentwickler habe ich mich vor einem Jahr intensiv mit »Augmented Reality Games« (ARG) beschäftigt. Dabei habe ich auch das damals bekannteste Spiel dieser Art, genannt »Ingress«, ausprobiert. ARG sind digitale Spiele, die die aktuelle Umgebung der spielenden Person in das Spielgeschehen miteinbeziehen. Bei Ingress tauchen die Spielenden über ihre Smartphones in eine Art interdimensionale Hackerwelt ab, laufen in der realen Welt herum und beobachten diese über eine sehr abstrakte Karte, die ein bisschen wie Google Maps in dunkel aussieht.

Das Interessante an dem Spiel ist, dass die Spielenden allerlei Orte in ihrer realen Umgebung markieren konnten. Diese werden als »Portale« auf der Karte angezeigt. Das Entdecken, Verstärken und Erobern solcher Portale ist Hauptbestandteil des Spiels. Bilder und Beschreibungen verorten die Portale auf der sonst etwas faden Karte und geben dem Spiel den eigentlichen Bezug zur Realität.

Während ich also mein Viertel nach Portalen durchsuchte, habe ich versucht von den Stolpersteinen ein Bild zu machen und sie bei Ingress als eigenes Portal einzutragen. Mir gefiel der Gedanke, dass die Gedenksteine auf einem ganz neuem Weg entdeckt werden konnten. Zudem waren mir unter meinen vielen spielbegeisterten Bekannten und befreundeten Geeks nur eine handvoll Leute bekannt, die Ingress wirklich leidenschaftlich spielen. Dass also eine breite Masse an Leuten daraufhin die Stolpersteine belagert, war zu dem Zeitpunkt eher unwahrscheinlich.

Pokémons auf Gedenksteinen zu fangen, fühlt sich irgendwie falsch an

Ein Jahr später kam dann aber »Pokémon Go« von Niantic Labs auf den Markt und wurde in kürzester Zeit zu einem der beliebtesten Spiele des Sommers. Unzählige Leute ziehen nun durch die Straßen, um kleine knuddelige digitale Monster zu fangen. Das löste Irritationen aus, da gerade in Berlin manche der Orte, die es zu besuchen und zu erobern gilt, mit Bildern und Beschreibungen von Stolpersteinen bestückt sind. Kleine Pokémons auf Gedenksteinen zu fangen, fühlt sich irgendwie falsch an. Auch Gunter Demnig, der Künstler, der die Stolpersteine anfertigt, ist alles andere als begeistert davon.

Die Spielenden bei Pokémon Go haben keine Möglichkeit, Orte zu erschaffen. Wieso also hat der Hersteller Niantic Labs ausgerechnet Stolpersteine und andere Gedenkstätten ausgewählt? Niantic hat auch Ingress entwickelt. Dieses Spiel ist seit fast sechs Jahren online – die Community hat in dieser Zeit sorgfältig in sehr vielen Städten interessante Orte und Verstecke markiert, darunter auch viele Stolpersteine. Diesen Datensatz hat sich das Pokémon-Go-Studio nun zu Nutze gemacht und in sein neues Spiel integriert. Nun muss eine begeisterte Spielerschaft ihre Spielumgebung nicht über Jahre hinweg selber bauen, sondern man kann sofort dort eintauchen.

In der Spieleentwicklung nennen wir das dahinterstehende Prinzip »User Generated Content«. Das Spiel gibt den Spielenden einen Rahmen von Regeln und Spielmechaniken, die Community erschafft mit diesen ihre eigene Spielwelt. Dadurch können vollkommen neue Dinge geschehen, auf die das Entwicklerteam nie gekommen wäre. Die Community fühlt sich als kreativer Teil der Spielwelt. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Minecraft, das beliebte Weltenbauspiel mit über 100 Millionen registrieren Usern.

Das Dilemma bei diesem Prinzip ist, dass durch die fehlende Kontrolle problematische Inhalte des Spieles größtenteils von den Spielenden selbst kontrolliert werden müssen. Unangebrachte Inhalte müssen aus eigenem Antrieb gemeldet werden, wenn diese im Spiel entdeckt werden. Schwieriger wird dies aber, wenn Personen das Spiel gar nicht spielen und dennoch den Ursachen ausgesetzt sind. Die Verknüpfung von Pokémon mit der realen Welt bringt das mit sich.

»BlutUndEisen« - Einfach dumm oder gezielte Provokation?

Kurz nachdem Pokémon Go in Deutschland verfügbar wurde, schickte mir ein Bekannter ein Bild von einem Avatar mit den Namen »BlutUndEisen«, der einen der vielen Stolpersteine in Berlin »kontrolliert« hat. Unklar bleibt, ob diese abstoßende Konstellation nun durch Ignoranz zustande kam, provozierendes Trollen darstellt oder gezielt politisch motiviert ist.

Solche User werden »Griefer« genannt. Sie nutzen die Spielumgebung nicht so, wie sie gedacht war - das sich alle Mitspielenden an dem Spiel erfreuen können -, sie nutzen aktiv vielmehr aktiv Schwachstellen in einem Spiel aus, um anderen den Spaß zu verderben. Dieses Verhalten entspricht etwa folgender Logik: Wenn man bei einem Fußballspiel überhaupt nicht gewinnen will, interessiert es auch nicht, wie viele rote Karten man für Fouls und Beleidigungen bekommt.

Je beliebter digitale Spiele oder Netzwerke werden, desto schwerwiegender kann dieser Missbrauch werden. Ein Beispiel wären hier die Probleme, die die Twitter-Community mit Belästigungen und Bedrohungen hat. Egal ob in Kommentarspalten von Onlineartikeln oder bei digitalen Spielen im öffentlichen Raum - nicht nur die Entwicklung solcher Systeme ist aufwendig, sondern auch die Moderation der usergenerierten Inhalte. Wie ernst diese Content-Moderation genommen wird, bestimmt unweigerlich das Klima unserer digitalen Gesellschaft.

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