- Kultur
- Weihnachten in den USA
Cocktails, Konzerte und Kinderkacke
Zu Weihnachten muss man auch in den USA in den »Nussknacker« von Tschaikowski
Howdy aus Texas, liebe Leser*innen,
nebst all den typischen US-Weihnachtstraditionen, die man aus Hollywoodfilmen kennt, gibt es hierzulande zwei weniger bekannte, die mich etwas überraschten: den jährlichen Besuch des »Nussknacker«-Balletts und die »Christmas Pops«, ein Symphoniekonzert klassischer Weihnachtslieder. Was ist daran so überraschend? Vielleicht der für uns Europäer so unkonventionelle Umgang mit Kultur: einerseits überkandidelt, andererseits ultraleger.
Ich wollte meiner Tochter früh den Zugang zu Kunst und Kultur ermöglichen. Nur ist sie seit ihrer Geburt bis gerade eben, vor fünf Minuten, mit fast acht Jahren, konstant ungezogen und wild (ich höre aber, dass das ein Generationsproblem sein soll und gar nicht unsere Schuld). Doch auch für diese Disposition gibt es amerikanische Lösungen, »familienfreundliche« Aufführungen nämlich. Diese verkürzen klassische Opern und Ballette, finden zu kinderfreundlichen Zeiten statt, drehen die Musik leiser, lassen das Licht an und schaffen generell eine Stimmung von Wohlwollen, sodass das Danebenbenehmen nicht nur erlaubt, sondern fast schon gefördert wird.
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
Vom »Nussknacker«-Ballett habe ich mittlerweile Burn-out-Erscheinungen. Für mich als russisches Kind in Sankt Petersburg war der Besuch des Mariinski-Theaters zu Neujahr Pflicht, und da war nichts mit Kinderfreundlichkeit, nur Menschenfeindlichkeit. Wie verwundert war ich, als ich feststellte, dass das Ballett in den USA noch beliebter ist als in seiner Heimat! Beinahe die Hälfte ihrer Jahresumsätze verdienen US-Ballettkompanien mit dem Tschaikowski-Stück. In Dallas konkurrieren gleich mehrere Truppen und Häuser im November und Dezember um den besten Knacker. Die amerikanischen Ballett-Besucherinnen stylen sich enorm auf – in Abendroben mit langen Handschuhen und Stilettos, mit geschminkten Kleinkindern und vor die Brust geschnallten Babys –, und das alles um 10 Uhr morgens.
Vor dem Krieg kam immer eine russische Truppe nach Dallas, die dreist »twenty bucks« für ein Foto mit der hier so gehypten Zuckerfee verlangte und angab, aus dem Bolschoi selbst zu sein, was nur wahr sein konnte, wenn mit dem Bolschoi der große Unfug gemeint war.
Dieses Jahr besuchten wir ein kinderfreundliches Christmas-Pops-Konzert in der Dallas-Symphonie, wo es vor Beginn Merch zu erstehen und Basteleien zu verrichten gab. Auch Santa Claus war da, um Süßigkeiten zu verteilen; Großfamilien mit Kinderwagen standen an für Fotos mit ihm, Mrs. Claus und einer Reihe von Weihnachtsbäumen, die überall im Foyer verteilt waren. Man sah nicht nur Cocktailkleider und Echtfelle, sondern auch Cowboyhüte, Crocs und Flanellhemden. »O Holy Night« ist dem amerikanischen Publikum wohl weniger heilig als der Schneeflocken-Walzer. Babys wurden aus Fläschchen gefüttert, während Eltern an ihren morgendlichen Cocktails nuckelten.
Das Konzert selbst war fabelhaft, obschon man ihm wegen des Plärrens, Babbelns und Füße-gegen-die-Balustrade-Ballerns nicht immer folgen konnte. Der Dirigent ließ beim Lied »12 Days of Christmas« ein paar Kinder aus dem Publikum die Zeilen »five golden rings« singen – oder eher quietschen.
Als ein Baby hinter uns die Windel vollmachte, freute ich mich, dass das die gekürzte Konzertfassung war. Und die Ungezogenheit meiner Tochter zahlte sich aus: Sie verzog gleich das Gesicht und sagte ziemlich laut, dass es nach Kacke rieche, was die Eltern dazu bewegte, schnell mit dem Stinker auf der Toilette zu verschwinden.
Bevor ich Kinder hatte, war ich entsetzt von der Tochter einer Freundin, die im »Dornröschen«-Ballett so lange mit ihrem Klappsitz herumspielte, bis ihr Bein eingeklemmt war und sie losschrie. Statt sie zu schelten, trug meine Freundin die stark geschminkte Neunjährige behutsam aus der Veranstaltung. »Schande! Freches Gör!«, dachte ich. Nun denke ich: Schade, dass die nichts von der familienfreundlichen Aufführung wussten.
Ich finde es erfrischend, dass die neue Generation, so wild sie auch sei, Kunst auf unkonventionelle Art erleben darf. Das, oder ich bin zu leger und menschenfreundlich geworden. Wie dem auch sei, werte Leser*innen, ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
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