- Kultur
- Kitsch
Eine Art, Ruhe zu suchen
Was dem einen sein Gartenzwerg, ist dem anderen sein Bourdieu: Kitsch gibt uns allen eine unsinnige Hoffnung
Als ich noch zu Hause wohnte, hatte meine Mutter irgendwann die Idee, das Klo neu zu gestalten. Meine Mutter ist eine Frau von hanseatischem Style und gutem Geschmack, sie hat das Herz einer Innenarchitektin. Die ganze große Altbauwohnung hatte sie nach und nach zu einem eleganten Wohlfühlort gemacht, mit geschliffenem Parkett, skandinavischen Designklassikern, stabilem Sofa und Antik-Elementen aus der familiären Erblinie.
Das Klo war bis dahin weitgehend unbeachtet geblieben, es war halt ein schraddeliges Altbauklo, in dem sich seit der Gründerzeit nicht viel getan hatte. An diesem Ort des Unsagbaren, als Krönung des bislang Geschaffenen, lebte meine Mutter nun ihre bislang verborgene Schwäche für Kitsch aus. In Altrosa und Grün wurde der gesamte Kloraum gestrichen, lackiert und durchinszeniert, mit Spiegel und Schleifchen und rosa Tulpen aus Plastik: Kitsch und Kacke, das hatte eine Stimmigkeit, über die man nie nachdachte und die sich erst ein bisschen erschloss, als wir das unmögliche Buch dorthin verbrachten.
Das Buch enthielt weihevolle Reden. Wir legten es auf unser rosa Klo.
Das unmögliche Buch hatten uns irgendwelche aufgeblasenen Bekannten zu einem Weihnachten geschenkt; wir hatten einen trunkenen Abend lang versucht, uns daraus vorzulesen, aber jeweils abgebrochen, da das Buch nicht wirklich auszuhalten war. Allerdings wohnte uns der Aberglaube des Bildungsbürgers inne, dass Bücher auf keinen Fall wegzuschmeißen seien, also hatte das Buch eine Weile ratlos herumgelegen, bis irgendwer die Idee hatte: Das müsste auf dem Klo zu liegen kommen! Was es sofort tat. Und jeden unmittelbar überzeugte. Hier plötzlich wurde es zum angemessenen Accessoire, hier hatte es einen Kontext gefunden, der sich stimmig anfühlte. Es handelte sich um gesammelte Ansprachen eines Staatsoberhaupts, welches von der BRD dafür verpflichtet worden war, das historische Erbe von Drittem Reich und Holocaust durch gutes Aussehen, pastoralen Stil, zur Schau gestellte Nachdenklichkeit und salbungsvolle Ansprachen zu überbauen; Ansprachen, die ganz großartig und wichtig zu finden die gesamte BRD-Öffentlichkeit sich selbst verdonnert hatte, und die hier nun, im Kitschkabäuschen, nach Hause kamen.
Kitsch ist der Form gewordene Konservatismus. Kitsch ist die gekreuzigte Kunst. Wenn die Menschheit sich in Lebendige und Mächtige unterteilt, dann ist Kunst die Sprache der Lebendigen – die der Mächtigen ist das Geld. Die Geldmenschen ahnen und verstehen irgendwo, dass die Kunst eine Macht hat, die sich ihnen entzieht. Und also setzen sie alles daran, sich diese fremde Macht einzuverleiben. Sie kaufen und verkaufen Kunst. Halten sich Feuilletons, die ihnen den Wert von Prosa und Poesie vorbeten. Sie plappern nach. Ätherisieren die Kunst wie einen gefundenen Käfer, und pinnen sie an. Das ist das Prinzip Kitsch: Ein Moment des Lebendigen wird einzufrieren versucht. Und damit das Eingefrorene nicht so tot erscheint, werden Glanzlack, Echo-Hall und Tralala drübergegossen.
Der Kitsch ist fast überall, an abgekupferter Licht- und Formensprache sollst du ihn erkennen, an schlechtem Pathos. Kitsch verweigert sich dem Denken und begräbt das Fühlen. Kitsch wühlt nicht auf, er stellt keine Fragen, schaut nicht fragend in die Zukunft, sondern besiegelt das Vergangene mit billigem Trost. Er baut den Hohenzollern ein Schloss und dem Holocaust einen Erlebnisparcours. Er findet immer salbungsvolle Worte und orchestriert ein Publikum, das zustimmend nickt und sich für ergriffen hält. Kitsch baut uns eine einfache Welt, er will uns zum Säugling machen, der auf der Matte liegt und ein bimmelndes Glitzerspielzeug anstarrt, das ihn für den Moment ruhig stellt. Und der Moment soll ewig währen.
Sieht man von Kunstzusammenhängen ab, gibt es drei Orte, an denen der Kitsch in unserer Vorstellung ein Zuhause hat: auf dem Klo, in der Kirche und im Garten – Orte, die vom unaufhaltsamen Werden und Vergehen handeln. Hier brauchen wir Trost durch Gartenzwerge, Porzellanblumen, Putten. Der Kitsch hilft uns, kurz eine Welt für möglich zu halten, die ohne Widersprüche ist, ohne Leid und Todesbedrohung. Einen Ort, der kein Erkennen und kein analytisches Denken benötigt.
Kitsch hat in jedem Herzen einen Ort, denn er gibt uns Momente der widervernünftigen Hoffnung: Wenn ich in der Ostkurve stehe und Lieder über Hertha BSC singe, dann ist die Welt nicht mehr grau in Schattierungen, sondern blauweiß. Wenn ich einen Feuilletontext lese, der in hochtrabenden Floskeln meinen Kulturkonsum zum bedeutsamen Prozess aufhübschen will – fühl ick mir jut. Wenn der bücherverhökernde Komplex sich in Kirchen versammelt, um von Bühnen auf die Menschheit herunterzureden – kann ich einen Moment vergessen, dass es hier ja nur ums Eintüten von Preis-Aufklebern und die Optimierung des Buchverkaufes geht; dass der Kitsch im Buch nur die höchste Schaumkrone ist vom Kitsch, der in den Zeitungen steht.
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Wenn ich zum Wahlkampfstand gehe und mir von netten Steuerberatern und Architekten SPD-Luftballons reichen lasse an einem gemütlichen Wochenmarkt-Samstagvormittag – glaube ich an die theoretische Möglichkeit einer gerechteren Welt. Wenn ich im Marx-mit-Sonnenbrille-T-Shirt herumlaufe, um meinen gnadenlosen Gerechtigkeitssinn und meine genialische Selbstironie zu feiern, kann ich ausblenden, dass Marx halt auch nur ein meinungsstarker Journalist war, der posthum zur Gottheit hochgedudelt wurde. Wenn ich einen Party-Abend in Berlin-Mitte damit verbringe, alle zwei Minuten »Bourdieu« zu sagen – habe ich meinem eigenen kleinen Religionskult gehuldigt. Wenn ich einen Zeitungstext schreibe, der sich folgsam meiner todschicken Zentralthese unterwirft – habe ich dem Kitsch des Denkens Vorschub geleistet, der eigentlich eine Form von Behäbigkeit ist, eine Art, Ruhe zu suchen.
Kitsch ist eine Form, die ihre Herkunft vergessen hat. Eine Totenmaske des Erlebten. Ein Versuch, im Moment die Ewigkeit zu finden, so wie Bölls Weihnachtsengel, der vom Baum herunter immer wieder »Friede« ruft. Der ultimative Kitsch ist die Vorstellung vom ewigen Leben – eine Idee, die niemand länger als zwei Sekunden zu Ende zu denken sich traut. Kitsch überkommt uns, wenn wir ganz, ganz doll nicht ans Vergängliche denken wollen. Daher fühlt sich ein Kitschklo so stimmig an, und hindrapiert das eine oder andere Klobuch, das Witze enthält oder eben weihevolle Reden. Für Momente täuscht uns das darüber hinweg, dass wir nur eine vorübergehende Komposition von Biomüll sind.
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