Aufklärung oder Rücktritt

Zentralrat der Juden droht dem Berliner Gemeindevorstand mit dem Ausschluss

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Gemeindeleitung muss die Wahlfälschungsvorwürfe ausräumen oder Konsequenzen ziehen, fordert der Zentralrat. Die Opposition bereit eine Klage vor. Viele Gemeindemitglieder sind entnervt.

Die aufs Neue erhobenen Vorwürfe des Betrugs bei den letzten Wahlen zur Repräsentantenversammlung in der Berliner jüdischen Gemeinde im Dezember 2015 »sind äußerst beunruhigend«, schreibt der Zentralrat der Juden in Deutschland in einer Anfang der Woche veröffentlichten Pressemitteilung. »Der weiterhin im Raum stehende Verdacht, dass es hier zu unrechtmäßigem oder vielleicht gar strafbarem Handeln in einer jüdischen Gemeinde in Deutschland kam, wirkt sich auf das Ansehen der gesamten jüdischen Gemeinschaft aus«, heißt es in der Erklärung. Können die Anschuldigen nicht schnellstmöglich niet- und nagelfest ausgeräumt werden, müssen die Amtsträger Konsequenzen ziehen, fordert der Zentralrat die Gemeindeleitung auf. Im Klartext: Sie müssen von ihren Ämtern zurücktreten und Platz für Neuwahlen machen. Andernfalls überlege man sich Schritte, um die Berliner Vertreter aus den Zentralratsgremien auszuschließen.

Eine deutliche Ansage. Die oberste Vertretung der Juden in Deutschland mischt sich jetzt in den seit langem schwelenden Wahlstreit in der Berliner Gemeinde ein und macht Druck. Obwohl die Oppositionsfraktion im Gemeindeparlament »Emet« schon seit der Bekanntgabe der Wahlergebnisse den Vorwurf der Manipulation bei der Briefwahl erhebt, kommt der jetzige Eingriff des Zentralrats nicht von ungefähr. In einem am 28. Juli vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) ausgestrahlten Fernsehinterview hatte der ehemalige Kultusdezernent der Gemeinde, Boris Braun, erklärt, er habe sich seinerzeit anManipulationen der Briefwahl im Jahr 2011 beteiligt. Damals seien Briefwahlscheine geöffnet und nichtausgefüllte Stimmzettel aus dem Seniorenheim nachträglich angekreuzt worden. Braun beschuldigte den Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe, er habe sich an dem systematischen Wahlbetrug beteiligt.

Joffe selber weist diese Beschuldigung wie zuvor entschieden zurück. »Die Vorwürfe von Herrn Braun sind völlig haltlos. Sie sind vom ersten bis zum letzten Buchstaben ausgedacht«, erklärte der Gemeindevorsitzende in einer Videostellungnahme über ein Videoportal. Braun habe es nicht verkraftet, dass der Vorstand die Zusammenarbeit mit ihm in der letzten Legislaturperiode wegen seines »unwürdigen und unehrenhaften« Verhaltens beendet habe. Jetzt starte er einen persönlichen Rachefeldzug. Gegen Braun und den »RBB« prüfe man rechtliche Schritte, so Joffe. Die Gemeindegeschäftsführung kündigte außerdem an, die Vorwürfe nach der Sommerpause »rückhaltlos« aufklären zu wollen. Die Statements des Zentralrats nehme man »mit äußerster Verwunderung und Unverständnis zur Kenntnis«, heißt es überdies vom Gemeindevorstand.

Ganz anders bewertet Joffes Gegenspieler, Oppositionsführer Sergej Lagodinsky, das jetzige Eingreifen des Zentralrats. »Wir haben lange an den Zentralrat appelliert und wir begrüßen diesen Schritt ausdrücklich«, erklärt der 40-Jährige. Lagodinsky stellt klar: »Es geht hier nicht nur um die Existenz der größten deutschen jüdischen Gemeinde, sondern überhaupt um die Glaubwürdigkeit des jüdischen Gemeindelebens in Deutschland.« Durch die mutigen Aussagen Brauns habe sich der Anfangsverdacht der Wahlfälschung massiv erhärtet. Jetzt müsse die Staatsanwaltschaft entsprechende Schritte einleiten und zur endgültigen Aufklärung des Falls beitragen. »Ich weiß, dass eine Anzeige von einigen Gemeindemitgliedern in Planung ist« sagt Lagodinsky.

Wie sich der Gemeindevorstand weiter verhalten wird und ob er den rechtlich nicht bindenden Aufforderungen des Zentralrats nachkommt, bleibt abzuwarten. Fest steht aber: Der schwelende Streit um die Wahlen sowie das damit verbundene vergiftete Klima belastet das Gemeindeleben. Viele Mitglieder haben die Querelen satt und wollen in der Öffentlichkeit nicht als zerstrittene Problemgemeinde wahrgenommen werden. »Als Juden haben wir ja sonst keine Probleme, dass wir uns nur noch mit uns selber beschäftigen können. Der Schaden für unsere Gemeinde ist schon jetzt enorm«, sagt Michael Groys. Der 25-jährige Publizist und Politikwissenschaftler ist seit vielen Jahren Mitglied in der Berliner Gemeinde. »Ich stehe mitten im Wahlkampf. Gerade jetzt nervt mich das ganze Gezanke tierisch«, sagt der überzeugte Sozialdemokrat.

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