Die Beglückung des Einfachen

Jenseits des IOC-Wahnsinns: Ilija Trojanow hat sich in 80 Olympia-Disziplinen versucht

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 6 Min.

Welche Schönheit im Sport steckt, das scheint in kulturbeflissenen Kreisen wenigen aufzufallen. Der linke Philosoph Terry Eagleton forderte beispielsweise in einem Interview mit dem »Freitag« 2013 die Abschaffung des professionellen Sports, weil es sich dabei um eine neuzeitliche Variante der römischen Herrschaftsstrategie »Brot und Spiele« handele, die uns nur von wichtigen sozialen Problemen ablenke. Den Fußball würdigte er sogar zum »Crack des Volkes« herab und verstieg sich zu der klassistischen Aussage, im Grunde sei Sport doch nicht so schlecht, weil »Leute, die Kunst nicht erleben können, dann dort genießen« dürften.

Auch wenn es vereinzelt Intellektuelle gibt, die über das Boxen oder den Fußball reflektieren, so haftet den Leibesübungen doch immer noch etwas Prolliges an, mit dem distinguierte Bürger möglichst wenig zu tun haben wollen. Das könnte darin begründet liegen, dass es sich bei vielen arrivierten Künstlern ebenso wie bei herkömmlichen Feuilletonisten oft genug um Menschen handelt, die schon als Kinder immer als Letzte ins Fußballteam gewählt wurden und im Schulalltag unter jenen Rowdys leiden mussten, die auch im Erwachsenenleben kaum mehr zu bieten haben als sportliche Skills und ein übersteigertes Selbstbewusstsein.

Wenn nun ein unter Gebildeten weithin angesehener Bestsellerautor wie Ilija Trojanow in seinem neuesten Buch nicht nur intelligent über den Sport räsoniert, sondern seine eigene Körperertüchtigung sogar zum Gegenstand dieses Werkes macht, dann betreibt er damit vor allem eine dringend notwendige Vermittlung zwischen den Kulturen.

Als er während der Olympischen Spiele 2012 mit Kartoffelchips vor dem Fernseher seinen mit dem Alter runder gewordenen Bauch begutachtete, beschloss der Schriftsteller, schnellstmöglich »vom Voyeur zum Akteur« zu werden, seine eigene Olympiade zu starten und schriftlich ausführlich darüber zu berichten: Fast vier Jahre lang versuchte er sich in allen 80 Olympia-Disziplinen jenseits des Mannschaftssports - und setzte sich das ambitionierte Ziel, »halb so gut wie der Olympiasieger von London 2012 zu sein«.

In »Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen« kommt schon die folgerichtig ganz zu Beginn des Buches platzierte Quintessenz des ausgewiesenen Linksliberalen für das eigene Milieu niedrigschwellig, weil versöhnlich daher: »Im Laufe der Recherche hat meine Bewunderung für die individuellen Leistungen in dem Maße zugenommen wie meine Abneigung gegenüber dem Leistungssport. Nicht nur wegen der Dominanz von Kommerz, Betrug und Korruption, sondern auch, weil die Durchökonomisierung den Sport seiner Poesie beraubt.«

In dem zweiten Satz findet sich genau jener zauberhafte Zugang, der Trojanows Beschreibungen über weite Strecken so fesselnd erscheinen lässt, dass sicher selbst manch notorischer Turnbeutelvergesser es nach der Lektüre kaum erwarten kann, zum Zehnkampf anzutreten oder im Kanu das Wildwasser zu bändigen.

Wie nicht anders zu erwarten, liegen Trojanow manche Sportarten mehr als andere. Schade, dass er sich dort, wo er scheitert, selten den Raum nimmt, dieses Scheitern ausgiebig zu ergründen. Beim Schießsport gesteht er sich ein, sein Vorurteil vom wild um sich ballernden Hallodri nicht überwinden zu können, belässt es aber bei dieser Erkenntnis.

Dabei böte sich doch gerade in diesem als Reportageband angelegten Werk die Gelegenheit, intensiver mit den häufig hochkulturfernen Schützenvereinsmitgliedern kontrovers ins Gespräch zu kommen. Wenn der Autor wiederum beim Turnen kapituliert, kriecht einem beim Lesen der seit Grundschulzeiten in Trojanow fest verankerte und verständliche Hass auf die Gerätschaftsgymnastik in die Seele, ohne dass er sich an einer tiefer gehenden Erklärung versuchen muss.

Meist kann sich der heute 50-Jährige dann doch für die jeweilige Disziplin begeistern - und lässt einen in großartigen Passagen daran teilhaben. Das geht schon mit dem Triathlon in Südafrika los, bei dem er alles falsch macht, was ein Amateur falsch machen kann: In seinem Neoporenanzug fühlt er sich sehr unwohl und bemerkt zu spät, dass er ihn verkehrt herum trägt. Seine Trinkflasche für das Fahrrad hat er gleich ganz zu Hause vergessen, so dass er eine Tankstelle stürmen und völlig aus der Puste den Verkäufer anflehen muss: »Ein Getränk, ich habe kein Geld, aber ich brauche ein Getränk, ich zahle später!«

Natürlich stellt sich wenige Seiten später bereits heraus, dass Trojanow keineswegs der lächerliche Laie ist, als der er sich im Einleitungskapitel inszeniert. Immerhin waren seine Eltern einst Leistungssportler, er selbst hat es auf dem Tenniscourt und im Fahrradsattel zu beachtlicher Sportlichkeit gebracht. Trojanow war lediglich außer Form, als er vor vier Jahren seinen olympischen Entschluss fasste.

Den komplexen Disziplinen nähert sich der Literat dementsprechend als überwiegend nicht sonderlich bewanderter, dafür aber leidenschaftlich neugieriger Sportinteressierter. Sinnlich beschreibt er etwa seine Faszination für das Ringen, das so brutal wirke und tatsächlich »eine fast zärtliche Verbrüderung« der Kontrahenten voraussetze, denn: »Bei keiner anderen Sportart kommt man sich so nahe.«

Auch das Fahrrad gelangt hier zu hochpoetischen Ehren: »Kaum rollt das Rad, verwirklicht sich die Freiheit, die es mir im Wohnungsflur versprochen hat. Der nächste Anstieg reißt mich aus meinem Hochfrequenzpathos heraus. Jede Steigung ist Belastungsprobe und Selbstüberwindung zugleich. Jeder Höhenmeter stellt die eigene Selbstüberschätzung in Frage. Die Exerzitien des Berges sind eine Übung in Demut.«

Ob er nun die Interaktion mit seinen meist kauzigen Trainerinnen und Trainern plastisch schildert oder beiläufig skurrile Details (»Bartwuchs ist den olympischen Boxern verboten, selbst ein Drei-Tage-Bart!«) einstreut: Jede Disziplin offenbart sich als zu entdeckende, komplexe und vielfältige Subkultur. Wer sich außerdem gerne über die oft einfallslose Phrasendrescherei der Sportjournalisten mokiert, dem bietet dieses Buch ebenfalls Anschauungsunterricht. Selbst ein wahrer Wortkünstler wie Ilija Trojanow, dem so viele Sätze famos gelingen (»Radfahren wäre eine prima Sportart, gäbe es den Sattel nicht«; »Sprint ist eine Ekstase, die von der eigenen Erschöpfung überholt wird«; »Bodenturnen kommt schnell an meine Grenzen«), ist beim Schreiben über den Sport nicht gefeit vor einigen Plattitüden und Binsenweisheiten (»Der einzige Mensch, den es zu besiegen galt, war ich selbst«; »Sport ist eine Arena der Leidenschaften«; »Im Winter zu laufen bedeutet, sich den Naturgewalten auszusetzen«).

Letztlich ist es »die Schönheit des Alltäglichen, die Beglückung des Einfachen«, die Trojanow von seinem mehrjährigen Experiment mitnimmt. Die Dramatik des engen Ausgangs, die Berichte vom himmelhoch jauchzenden, knappen Sieger und dem zu Tode betrübten, knappen Verlierer auf allerhöchstem olympischen Niveau banalisiere die Magie des Augenblicks, um die es im Sport und erst recht bei den Olympischen Spielen doch eigentlich gehen solle: »Wenn die Niederlage einem Wimpernschlag geschuldet ist, könnte man sie genauso gut als Nichtigkeit betrachten.«

Natürlich weiß auch Ilija Trojanow, dass davon in den kommenden Wochen während und abseits der Wettkämpfe im brasilianischen Rio de Janeiro ebenso wenig zu spüren sein wird wie im vergangenen Juni und Juli in Frankreich bei der Fußball-Europameisterschaft. Was dem intensiv Sporttreibenden aber auch IOC, UEFA und FIFA nicht nehmen können, das hat er während seiner ganz eigenen Olympiade nicht nur gesehen, sondern erspürt: »Vielleicht werde ich nie wieder im Leben ringen, aber die Tatsache, dass ich diese wie auch andere Sportarten vermissen werde, ist an sich schon Bereicherung genug.«

Ilija Trojanow: Meine Olympiade. Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen. S. Fischer, 336 S., geb., 22 €.

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