Historiker: 700 rassistische Übergriffe in der DDR

Rechtsextremismus-Forscher arbeitet fremdenfeindliche Angriffe vor 1989 auf / 200 pogromartige Vorfälle

  • Elsa Koester
  • Lesedauer: 3 Min.

Exakt 715 flüchtlingsfeindliche Vorfälle zählen Pro Asyl und die Antonio Amadeu Stiftung seit in der ersten Jahreshälfte 2016, davon 126 tätliche Angriffe auf Flüchtlinge mit Körperverletzung. Demnach hat sich die Zahl der rassistischen Angriffe im Jahr 2016 gegenüber dem Vorjahreszeitraum mehr als verdoppelt. Die Organisationen sprechen von einer »neuen Dimension der Gewalt«.

Ein Problem stellten Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland schon immer dar – und zwar in beiden Teilen. Denn dass der Alltag in den Dörfern und Städten der DDR dem hehren Anspruch eines antifaschistischen und weltoffenen Staates nicht ganz gerecht wurde, ist schon länger bekannt. Wie viele rassistische Übergriffe es dort tatsächlich gab, versuchte nun der Historiker Harry Waibel herauszufinden.

Hunderte rassistische Überfälle in der DDR

Das Ergebnis präsentiert Waibel im MDR-Magazin »exakt« (Sendetermin: Mittwoch, 20.45 Uhr). Demnach kam der Historiker auf insgesamt rund 700 Angriffe gegen Menschen mit Migrationshintergrund in der DDR, darunter 200 Vorfälle, die der Historiker als »pogromartig« bezeichnet. Dabei kamen auch Menschen zu Tode. Das sind weitaus mehr Auseinandersetzungen zwischen DDR-Bürgern und Migranten als bisher bekannt war.

So seien 1975 in Erfurt Nordafrikaner mit dem Ruf »Schlagt die Algerier tot!« durch die Stadt gejagt worden. Aus Algerien hatte die DDR seit Mitte der 60er Jahre Vertragsarbeiter zur Lösung des Arbeitskräftemangels ins Land geholt. Nach wiederholten rassistischen Übergriffen holte die algerische Regierung die meisten Arbeiter wieder zurück.

Bei einem anderen Vorfall in Merseburg wurden 1979 zwei Kubaner nach einer Hetzjagd getötet. Ihre Angehörigen auf der sozialistischen Insel erfuhren lange nicht von den Todesursachen: Die Ermittlungen seien von Stasi-Chef Erich Mielke eingestellt worden.

»Das war das Resultat des Kulturschocks der jungen Kubaner mit den jungen Deutschen«, zitiert das MDR-Magazin den ehemaligen Botschafter Kubas in der DDR, Julio Garcia Oliveras. Samstagnachts habe es häufiger Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Kubanern, Algeriern oder Jugoslawen gegeben.

Waibel: Fremdenfeindlichkeit in einer homogenen Gesellschaft

»Diese homogene Gesellschaft der DDR war es weitgehend nicht gewohnt, mit Fremden, gerade auch wenn sie aus dem außereuropäischen Raum kamen wie die Algerier, umzugehen«, sagt Waibel. Die politische Führung habe die Vorwälle unter den Tisch gekehrt, weil sie mit dem antifaschistischen Selbstverständnis des Staates nicht vereinbar waren.

Die Arbeit zu Rassismus und Antisemitismus in der DDR ist Forschungsschwerpunkt Waibels. Er promovierte 1996 zu dem Thema »Rechtsextremismus in der DDR bis 1989« und veröffentlichte 2014 ein Buch über den »gescheiterten Anti-Faschismus in der DDR«. Neben seinen Arbeiten zum eheligen Arbeiter- und Bauernstaat war der Historiker auch in der BRD politisch gegen Rechts aktiv. Waibel engagierte sich bereits 1969 gegen die NPD in Baden-Württemberg und lange Jahre in der Hausbesetzerszene Freiburgs.

Für seine jüngste Forschung wertete der Historiker jahrelang tausende Stasi-Akten zu ausländerfeindlichen Übergriffen aus – und geht davon aus, dass die Dunkelziffer noch höher liegen könnte als die gefundenen 700 Fälle.

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