»Kein anderes Volk wird so oft diskriminiert«

In einem ukrainischen Dorf soll ein Roma ein Mädchen ermordet haben - es kam zu Pogromen und Vertreibungen

  • Denis Trubetskoy
  • Lesedauer: 4 Min.

Eigentlich war es nicht zu erwarten, dass das Dorf Loschtschyniwka im Süden des ukrainischen Regierungsbezirks Odessa einmal große Schlagzeilen machen würde. Der Ort mit rund 1350 Einwohnern war zwar in der Gegend für seine bunte Nationalitätenmischung bekannt, das kleine Dorf spielte allerdings nie eine bedeutende Rolle. Seit einigen Tagen allerdings macht Loschtchyniwka nun tatsächlich Schlagzeilen - nicht nur in der Ukraine, sondern auch außerhalb des Landes. Doch der Anlass ist ein trauriger und auf diese Berühmtheit würde das Dorf vermutlich gerne verzichten.

Am 26. August wurde in einem verlassenen Haus am Rande von Loschtschyniwka die Leiche eines achtjährigen Mädchens gefunden. Spuren deuten daraufhin, dass sie ermordet worden ist. »Die Ermittler konnten Hinweise auf eine Vergewaltigung finden. Das Mädchen wurde dann mit einem spitzen Gegenstand ermordet, das Herz und eine Lunge wurden schwer verletzt«, teilte die Polizei mit. Micheil Saakaschwili, Ex-Präsident Georgiens und jetziger Gouverneur von Odessa, sprach von einer »unfassbaren Tragödie, die so schnell wie möglich aufgeklärt werden muss«.

Bei dem Täter soll es sich nach Angaben der Polizei um einen 21-jährigen arbeitslosen Roma handeln. Nachdem der mutmaßliche Täter von der Polizei gefasst worden war, gab es in Loschtschyniwka große Ausschreitungen. Rund 300 Menschen entfachten einen Pogrom gegen die Roma-Gemeinschaft des Dorfes: Ein Haus wurde in Brand gesetzt, mehrere Häuser wurden massiv beschädigt. Die lokalen Behörden stimmten schließlich der Vertreibung der Roma-Familien aus dem Dorf zu.

Wie es weitergeht, ist unklar. Während einige Familien Loschtschyniwka bereits verlassen haben, wollen andere bleiben - und schließen juristische Schritte nicht aus. »Mehrere Roma-Familien sind in Gefahr, obdachlos zu werden. In sozialen Netzwerken werden Roma massiv beleidigt, es gibt Drohungen«, heißt es in der Stellungnahme des ukrainischen Roma-Menschenrechtszentrums. »Wir dürfen nicht zulassen, dass die Tat eines Einzelnen den Hass gegen die ganze Roma-Gemeinschaft entfacht.«

Vor Ort ist die Ablehnung der Roma tatsächlich allgegenwärtig. »Die Gegend von Loschtschyniwka ist längst ein Problem, ich bin von den Vorfällen nicht überrascht«, sagt Witalij Chemij, ein bekannter Fernsehjournalist aus Odessa. Von Pogromen will er nichts wissen: »Seit drei Jahren ist die Kriminalitätsrate der Roma dort deutlich gestiegen. Es ging um Drogenhandel, Schlägereien in Bars und kleine Diebstähle. Aus meiner Sicht waren das jetzt keine Pogrome, sondern eine Geste der erschöpften und müden Familien.«

Dass Roma in der Ukraine keinen guten Ruf haben, ist nicht erst seit Kurzem bekannt. »In der Ukraine gibt es kein anderes Volks, das so massiv diskriminiert wird«, betont der Menschenrechtler Wolodymyr Kondur, der sich mit den Problemen von Roma in der Region Odessa befasst. Insgesamt leben rund 500 000 Roma in der Ukraine, die meisten davon im Bezirk Odessa und in Transkarpatien. Gerade in Odessa ist die Integration von Roma weitgehend gescheitert, die Trennlinie zwischen ihnen und allen anderen Nationalitäten ist deutlich.

»Es ist kein Geheimnis, dass es inoffizielle Roma-Schulen gibt«, erzählt ein anonym bleibender Vertreter des Verwaltungsbezirks Odessa der Zeitung »Westi«. »Solche Schulen besuchen nur Roma, die in der Nähe wohnen. Sie sind nicht gut, aber es gibt keine Alternative.« Von anderen Schulen werden Roma oft nicht angenommen. Eine Arbeit zu finden ist für sie ebenfalls ein großes Problem. Während in Transkarpatien Roma zumindest oft als Reinigungskräfte beschäftigt werden, ist die Lage in Odessa schwieriger. Sogar für solche Jobs kommen Roma-Vertreter für die meisten Arbeitgeber nicht in Frage.

Die Menschenrechtler glauben, dass das zusammen mit der schwachen Allgemeinbildung der Hauptgrund für die seit Jahren hohe Kriminalitätsrate unter Roma ist. Außerdem versuchen einige Roma, mit anderen Tricksereien an Geld zu gelangen. So sind in Transkarpatien Gruppen bekannt, die ihre Stimmen bei Wahlen gemeinsam verkaufen. Eine weitere Schwierigkeit: Nach verschiedenen Einschätzungen leben zumindest 45 000 Roma in der Ukraine de facto illegal. Sie haben keine Pässe und sind nirgendwo angemeldet. »Die Probleme von Roma sind groß. Es wird Jahre dauern, bis sie reduziert werden«, glaubt Wolodymyr Kondur. Klar ist: Die Situation in Loschtschyniwka wird die Lage der Roma in der Ukraine nicht verbessern.

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