Deutschland diktiert EU-Weißbuch

Der »Brexit« macht’s möglich, Berlin und Paris wollen die Europäische Union zur kleinen Großmacht aufblasen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Großbritannien war - trotz aller gelebten Dickköpfigkeit - eine Stütze der EU. Die Größe des Landes, seine Wirtschaftskraft, vor allem die Importlust und seine militärische Stärke fielen ins Gewicht. London war eine wichtige transatlantische Relaisstation, über Großbritannien (und Frankreich) war die EU jederzeit im UN-Sicherheitsrat vertreten, London ist ein Vorreiter in der Entwicklungspolitik und das einzige EU-Land, das das UN-Ziel von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe gesetzlich festgeschrieben hat. Nun der beschlossene »Brexit«, also der unabwendbare Ausstieg des Inselreiches aus der Europäischen Union.

Bislang hat London stets auf der Bremse gestanden, wenn über eine Reform der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die darin verankerte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) debattiert wurde. »Wir haben ein für allemal völkerrechtlich verbindlich festgelegt, dass die nationale Sicherheit Großbritanniens in der alleinigen Verantwortung der britischen Regierung liegt - daher werden wir zum Beispiel nie Teil einer Europäischen Armee werden«, hatte der einstige konservative Premierminister David Cameron ultimativ formuliert. Nun bietet der »Brexit« all jenen eine Chance, die die EU zu einem globalen Akteur machen wollen.

Zuerst legte die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, Ende Juni ihre »Globale Strategie« vor. Sie will eine »starke Union, die strategisch denkt, eine gemeinsame Vision hat und gemeinsam handelt«. Parallel zu einigen konservativen Diskussionsforen forderten der Chef des EU-Parlaments, Martin Schulz, und sein SPD-Parteivorsitzender, Sigmar Gabriel, dann eine »Vergemeinschaftung« der europäischen Außenpolitik. Die Außenminister Frankreichs und Deutschlands, Jean-Marc Ayrault und Frank-Walter Steinmeier, verlangten gleichfalls in diesem Sommer eine »integrierte« europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die das Zusammenführen aller Potenzen erfordert. Mitte September nun meldeten sich die wichtigsten Verteidigungsminister der EU, um eine Erneuerung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu befördern.

Ursula von der Leyen (Deutschland) und Jean-Yves Le Drian (Frankreich) wollen ihre auf sechs Seiten umrissene Initiative beim EU-Treff am Donnerstag in Bratislava vorstellen. Offenbar hätte man auch gern Polen dabei gehabt, doch wie sich jüngst beim Treffen des »Weimarer Dreiecks« zeigte, strebt Warschau danach, sich als Sprecher der mittel- und osteuropäischen Staaten zu etablieren.

Das setzt eine gewisse Abgrenzung von den beiden westlichen Führungsnationen voraus. Zugleich signalisierte man den USA so unbedingte NATO-Treue. Zu der stehen von der Leyen und Le Drian natürlich auch, zusätzlich streben sie aber »hin zu einer umfassenden, realistischen und glaubwürdigen Verteidigung in der EU«. Wer sich anschaut, wie das bewerkstelligt werden soll, fühlt sich an das vor wenigen Wochen in Berlin veröffentlichte »Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« erinnert.

Dessen Autoren haben sich auf sieben Seiten Gedanken über »Deutschland in der Europäischen Union« gemacht. Das nun vorliegende bilaterale Papier knüpft unmittelbar daran an. »Die militärischen und nicht-militärischen Bedrohungen für die EU-Bürger und das EU-Territorium sind real«, heißt es im ersten Absatz. Man fordert »ein stärkeres Europa in Sicherheits- und Verteidigungsangelegenheiten, europäische strategische Autonomie und eine glaubwürdige, schnelle, effektive und reaktionsfähige GSVP«. Verlangt wird, dass politische Strategien »zügig in konkrete Aktionspläne übersetzt werden«. Dazu bedarf es einer »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit«. Man müsse »strategische Planungsfähigkeiten« erwerben und ein permanentes EU-Hauptquartier bilden. »Insbesondere unsere Beziehungen zu unseren europäischen, afrikanischen und nordafrikanischen Partnern sollten weiter verbessert werden«, liest man und erfährt, dass unsere gemeinsame Sicherheit vor allem im Mittelmeerraum, in Westafrika und der Sahelzone, der Zentralafrikanischen Republik sowie am Horn von Afrika »auf dem Spiel steht«.

Gestärkt werden soll das Eurokorps, Trainingsmaßnahmen und ähnliches verlangen mehr Einheitlichkeit. Es soll ein EU-Sanitätskommando geben und die strategische Transportfähigkeit verbessert werden. Besser als bislang sollten die Ergebnisse der Satellitenaufklärung genutzt werden, vor allem für den Grenz- und Küstenschutz. Gemeinsame Forschungsprogramme sind angesprochen und auch die Kooperation mit der NATO erfährt eine Ausweitung.

Als Fazit mitgeliefert: »Unser mittelfristiges Ziel ist es, der EU angemessene Fähigkeiten auf taktischer/operativer Ebene für die Planung und Durchführung von militärischen GSVP-Missionen und Operationen zur Verfügung zu stellen«. Bei den umfangreichen Überlegungen zu »einer starken, konkurrenzfähigen und innovativen« Rüstungskooperation werden vier Schlüsseltechnologien genannt: Luft-zu-Luft-Betankung, Satellitenkommunikation, Cyber und ferngesteuerte Flugsysteme, also die »Eurodrohne«. Man kennt die Aufzählung aus dem »Weißbuch«, das - von vielen unbemerkt - ganz nebenbei auch eine Art Vorbild für andere EU-Staaten sein soll.

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