Du sollst nicht töten!

In Ferdinand von Schirachs Stück »Terror« urteilt das Publikum

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

In Steven Spielbergs Science-Fiction-Film »Minority Report« gehören Mitte des 21. Jahrhunderts Verbrechen der Vergangenheit an. Menschen mit hellseherischen Fähigkeiten können in ihren Visionen Morde voraussehen, bevor diese begangen werden. Sie kennen die Namen der Noch-nicht-Täter und die Zeitpunkte der zukünftigen Morde. Die Polizei kann so die »Täter« verhaften; ohne Prozess und Urteil werden diese in einen künstlichen Schlaf versetzt.

Außer Kraft gesetzt wird damit eines der grundlegendsten Prinzipien des Rechtsstaats: dass eine Tat erst verurteilt werden kann, wenn sie begangen wurde. Mehr noch: Es stellt das wichtigste Gesellschaftsprinzip in Frage, nämlich, dass die bloße Vermutung, ein Mensch könnte in der Lage sein, ein Verbrechen zu begehen, niemanden berechtigt, diesen Menschen präventiv zu bestrafen und dabei gar unschuldig Beteiligte in Mitleidenschaft zu ziehen. Nicht anders muss nämlich das genannt werden, was den Angehörigen derer widerfährt, die in »Minority Report« mit lebenslangem Komatod bestraft werden.

93,5 Prozent für Freispruch

Weltweit ist »Terror« derzeit an 51 Theatern zu sehen. Neben 39 deutschen Bühnen zeigen auch Schauspielhäuser in Ungarn, Venezuela, Japan, Österreich und in der Schweiz das Stück. Im Laufe dieser Saison wird Ferdinand von Schirachs Werk zudem in Israel, Slowenien und Dänemark gespielt.

Auf einer Webseite sind die Ergebnisse der bisherigen Publikumsabstimmungen dokumentiert. Insgesamt wurden 506 Verhandlungen dramatisiert, 93,5 Prozent der Fälle endeten mit einem Freispruch. In absoluten Zahlen plädierten von 155 691 »Schöffen« bislang 93 368 für »nicht schuldig« und 62 323 für »schuldig«. Das entspricht einem Verhältnis von 60 Prozent zu 40 Prozent. Auffällig ist, dass nach den Terrorakten von Paris (November 2015) und Brüssel (März 2016) die Freispruchquote jeweils stieg. cba

Schuldig oder nicht schuldig? Das Urteil fällt dem Theater- bzw. dem Kino- und Fernsehpublikum naturgemäß leichter als Richtern. Für das Publikum ist ein solches Urteil folgenlos. In Ferdinand von Schirachs Stück »Terror« soll das Publikum ein Urteil über einen Piloten fällen, der mit seinem Kampfjet ein von einem Terroristen entführtes Zivilflugzeug abgeschossen hat, um damit zu verhindern, dass der Entführer seine Drohung wahr macht und die Maschine in ein mit 70.000 Menschen voll besetztes Fußballstadion abstürzen lässt. 164 gegen 70.000 - moralisch eine klare Angelegenheit. Das Leben der wenigen Einzelnen zählt weniger als das Leben der Vielen.

Doch so einfach ist das nicht. Der Rechtsstaat ist nur dann stark, wenn er in seinen Prinzipien amoralisch ist - und dabei eines der stärksten religiösen Gebote betont: Du sollst nicht töten! Darauf zielt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2006, das das nach den Anschlägen des 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York eingesetzte Luftsicherheitsgesetz kassierte. Der Staat muss sich, so hat es der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm 2015 abermals betont, wenn irgend möglich, an das Tötungsverbot halten. Die Frage, wie milde oder hart ein Kampfpilot, der gegen dieses Verbot verstößt, bestraft wird, sei dadurch allerdings nicht beantwortet.

Geschichte kann immer nur von ihrem Ende erzählt werden; das ist eine Binsenweisheit. Sie kann aber auch - und das wird vielfach verdrängt - immer auch nur von ihrem Ende her beurteilt und gegebenenfalls verurteilt werden. Das ist eine schmerzende Erkenntnis, wenn man sich die Beispiele vergangener Kriegsverbrechen, Völkermorde und ähnlicher verwerflicher Taten vor Augen führt.

Schuldig oder nicht schuldig? Die Frage in Schirachs Stück ist falsch gestellt. Sie müsste eigentlich lauten: Richtig oder falsch? Die Antwort ist keine juristische, sondern eine Gewissensfrage, die jeder für sich selbst beantworten muss.

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