Das hätte nicht passieren dürfen

Ein mutmaßlicher Terrorist beging Suizid - dennoch hätten alle alles richtig gemacht

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Versagen Sachsens und möglicherweise auch das von Bundesbehörden im Fall des mutmaßlichen Terroristen Dschaber al-Bakr ist zwangsläufig ein Nährboden für Sarkasmus. Wer auch hätte sich denken können, dass ein zum Selbstmord entschlossener Terrorist nicht sonderlich am Leben hängt? Zudem war Dschaber al-Bakr nach seiner Einlieferung in die Leipziger Justizvollzugsanstalt in den Hungerstreik getreten. Sogar ein Glas mit Wasser lehnte er ab. Statt dessen riss er die Lampe von der Decke und die Steckdose aus der Wand. Am Mittwoch gegen 19.45 Uhr wurde er von einer JVA-Anwärterin tot in seiner Zelle aufgefunden worden sein. Angeblich hat er sich mit Hilfe seines Häftlings-T-Shirts am Zellengitter erhängt.

Der gesamte Fall al-Bakr ist wahrlich nur als Skandal zu bewerten. Angeblich wollte der als Flüchtling 2015 nach Deutschland gekommene 22-jährige Syrer einen Anschlag auf Personenzüge oder einen Berliner Flughafen verüben. Nach Hinweisen des Bundesamtes für Verfassungsschutz sollte ihn die sächsische Polizei in Chemnitz festnehmen. Er entkam den eingesetzten Spezialkräften jedoch.

Von der Einlieferung bis zum Suizid

Montag:

  • 15.35 Uhr: Ein Spezialeinsatzkommando der Polizei bringt al-Bakr in die Justizvollzugsanstalt Leipzig. Ein umfassendes Aufnahmegespräch ist nicht möglich, weil al-Bakr kaum Deutsch spricht. Er verweigert die Nahrungsaufnahme. Weil der 22-Jährige als gefährlich gilt und die Ermittlungsrichterin auf die Gefahr des Suizids hinwies, kommt er in eine Einzelzelle mit zusätzlichem Innengitter und wird alle 15 Minuten kontrolliert. Wärter öffnen dazu die Zellentür und schalten das Licht ein.

Dienstag:

  • 9.45 Uhr: Ärztliche Aufnahme durch den Anstaltsarzt.
  • 10 Uhr: Gespräch mit Pflichtverteidiger Alexander Hübner, mit Unterstützung eines Dolmetschers.
  • Anschließend: Ausführliches Gespräch mit einer Psychologin mit Hilfe eines Dolmetschers. Sie sieht keine akute Suizidgefahr, hat aber keine Erfahrung mit Terroristen.
  • 14 Uhr: Eine Teamsitzung mit Mitarbeitern der JVA-Abteilung bestätigt die Einschätzung. Al-Bakr wird deshalb – dem Vorschlag der Psychologin folgend – nur noch alle 30 Minuten kontrolliert.
  • 17.50 Uhr: al-Bakr meldet eine heruntergefallene Deckenlampe in seiner Zelle. Die Bediensteten gehen von Vandalismus aus, schalten den Strom in der Zelle ab. Zur Kontrolle kommen die Wärter nun mit Taschenlampe.

Mittwoch:

  • 10 Uhr: Während al-Bakr duscht, wird die Zelle kontrolliert. Nun wird festgestellt, dass auch eine Steckdose manipuliert ist.
  • Nachmittags: Die Elektrik wird repariert. al-Bakr erhält vorübergehend eine andere Zelle.
  • 16 Uhr: Der Syrer kommt in seine Zelle zurück.
  • 19.30 Uhr: Reguläre Kontrolle, al-Bakr sitzt auf seinem Bett.
  • 19.45 Uhr: Eine Justizvollzugsanwärterin kontrolliert ausnahmsweise schon nach 15 Minuten – aus Interesse oder »Dienstbeflissenheit«, wie es heißt. Sie findet al-Bakr mit seinem T-Shirt stranguliert am Gitter der Zelle und löst Alarm aus. Reanimationsversuche bleiben erfolglos. Ein Gerichtsmediziner schließt ein Fremdverschulden weitgehend aus. dpa/nd

In seiner Wohnung wurden 1,5 Kilogramm hochexplosiver TATP-Sprengstoff gefunden worden. Der Generalbundesanwalt übernahm die Ermittlungen. In der Nacht zum Montag war Dschaber al-Bakr in einer Leipziger Wohnung von drei Landsleuten festgesetzt worden. Die Polizei übernahm ihn dort im gefesselten Zustand.

Was dann geschah, liegt im Nebel. Offenkundig wurde er von Leuten des Bundes- und des sächsischen Landeskriminalamtes befragt. Ob Ermittler des Generalbundesanwaltes und Beamte der Geheimdienste beteiligt waren, ist unklar. Angeblich habe der Terrorverdächtige dabei die drei Landsleute, die ihn der Polizei übergeben haben, der Mittäterschaft bezichtigt. Es gibt noch zu viele offene Fragen. Nicht nur zu den Umständen des Selbstmordes.

Im Nachhinein, so der Leiter der JVA Leipzig, Rolf Jacob, am Mittag vor Journalisten, könne man selbstkritisch fragen: »Waren wir vielleicht doch ein bisschen zu gutgläubig? Haben wir dem äußeren Anschein zu viel Bedeutung beigemessen?«

Dem Anschein nach habe sich der Untersuchungshäftling als »ruhig und zurückhaltend« und durchaus »interessiert am Anstaltsalltag« gezeigt. So die Einschätzung der im Strafvollzug, jedoch nicht im islamistischen Terrorismusbereich erfahrenen Psychologin, die mit al-Bakrs Einlieferung mit ihm gesprochen hat. Ihre Empfehlung sei deshalb gewesen, dass die Kontrollgänge, die anfangs viertelstündlich durchgeführt wurden, nur noch im Halbstundentakt stattfinden.

Auch in der Absprache zwischen sächsischen Behörden scheint nicht alles funktioniert zu haben. »Die Polizei hat ihn uns einfach gebracht«, so Jacob. Seltsam, wie konnte man da sicherstellen, dass al-Bakr nicht einem IS-Gesinnungsgenossen über den Weg läuft? Schließlich wäre das bei einem Ausländeranteil von bis zu 50 Prozent in der JVA denkbar, doch nicht wünschenswert. Man habe den Neuankömmling vor allem als »fremdgefährdend« eingestuft. An Suizidgefahr habe man weniger gedacht, sagte Jacob. Im Nachhinein stellt sich auch die Frage, ob man nicht bei der Einlieferung des Gefangenen einen Dolmetscher hätte rufen müssen und ob es nicht geboten gewesen wäre, eine permanente Sitzwache vor der Zelle des mutmaßlichen Top-Terror-Häftlings zu organisieren. Schließlich erwarteten sich die Ermittler ja noch brisante Aussagen ihres Verdächtigen.

Insgesamt aber, so Anstaltsleiter Jacob, der sich zum Zeitpunkt der Einlieferung al-Bakrs im Urlaub befand, habe man sich an alle Vorschriften gehalten. Er stehe zu den Entscheidungen seiner Mitarbeiter. Das sieht Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) offenbar nicht anders. Er übernehme die politische Verantwortung für den Vorfall, doch Rücktrittsforderungen, die unter anderem von der LINKEN-Chefin Katja Kipping geäußert wurden, wies er von sich. Einig zeigte er sich mit Kritikern in einem Gedanken: »Das hätte nicht passieren dürfen.«

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) informierte unterdessen darüber, dass al-Bakr 2015 von den Sicherheitsbehörden überprüft worden ist. »Allerdings ohne Treffer. Es steht ja auch noch gar nicht fest, wann es dort zu einer Radikalisierung gekommen ist«, sagte er.

Diesem Zeitpunkt kommt man womöglich näher, wenn man einer vom MDR gefundenen Spur folgt. Danach reiste al-Bakr im Herbst vergangenen Jahres zweimal in die Türkei und hielt sich auch einige Zeit in der syrischen Stadt Idlib auf. Ein in Damaskus lebender 18-jähriger angeblicher Bruder al-Bakrs sagte gegenüber dem MDR: »Es ist alles so unglaublich, wir können uns nicht vorstellen, dass er zu so etwas fähig ist.« Wahrscheinlich habe jemand Dschabers Hirn gewaschen oder ihn manipuliert. In dieser Gegend um Idlib hatten damals der terroristische Islamische Staat (IS) und al-Nusra-Milizen das Sagen. Nach seiner Rückkehr soll sich der 22-Jährige verändert gezeigt haben, sagen Mitbewohner aus seinem Heim im nordsächsischen Eilenburg.

Der Generalbundesanwalt, der Herr des Terrorverfahrens ist, meldete sich interessanterweise nicht zu Wort. Dabei wäre ein Maximum an Transparenz wichtig, schon um Verschwörungstheorien die Nahrung zu entziehen. Eine besagt, dass nicht nur der IS, sondern auch deutsche Dienste eine weitaus größere Rolle gespielt haben könnten. Denn dass ein in Deutschland untergekommener Asylbewerber einfach mal so und von den Behörden unbemerkt nach Syrien reist, ist schon seltsam.

Krimiautoren würden da womöglich die Einschleusungsaktion für einen V-Mann vermuten. Zu untersuchen wäre auch, wie der Verfassungsschutz ausgerechnet auf Dschaber al-Bakr und das Bombenbau-Quartier in Chemnitz gekommen ist. Seltsamerweise wurde al-Bakrs eigentliche Unterkunft in Eilenburg nicht durchsucht. Diese und viele weitere Fragen müssen rasch beantwortet werden - und zwar nicht nur von den Behörden in Sachsen, denen man inzwischen jedes Versagen zutraut.

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