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Der Mensch bleibt Geheimnis

Margriet de Moor hüllt uns in die Stille einer Nacht

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Nachts vor halb drei: Eine Frau schlüpft aus dem Bett. Barfuß, ohne Licht zu machen, steigt sie die Treppe hinunter. In der Küche nimmt sie Mehl, Eier, den Handmixer, die große und die kleine Schüssel - bald wird es nach Kuchen duften.


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* Margriet de Moor: Schlaflose Nacht. A. d. Niederl. v. Helga van Beuningen. C. Hanser. 127 S., geb., 16 €.


Wieder einmal denkt sie voll Dankbarkeit an ihren Mann, der damals den Backofen in Kopfhöhe einbaute und im Haus einen weichen Holzfußboden legte. Sie hört noch das kräftige, kurze Hämmern, sieht sich noch selbst, wie sie den Pfosten an der Kellertreppe strich und wie zufrieden sie mit der Farbe war, diesem Graugrün. »Schlaflose Nacht« - wir merken bald, sie gehört dem Erinnern, einem Erinnern, das so sanft und still ist, dass es uns staunen macht. Denn an seinem Grund schlummert ein dunkles Geheimnis.

Geheimnisse sind gut für einen Roman; sie rufen uns, damit wir die Rätsel lösen. So in unserem Forscherdrang gefragt, bleiben wir bei der Lektüre. Insofern darf Margriet de Moors neues Buch wohl spannend genannt werden, aber das Erzählen ist so musikalisch wie es Spannungsliteratur nie wäre.

Der Ort: ein Bauernhof im niederländischen Norden. Die Ich-Erzählerin: schon längst nicht mehr jung. Eben noch hat sie in ihrem Schlafzimmer einen »schweren Arm« von sich heruntergehoben. »Er schlief weiter, einen freundlichen Ausdruck auf seinem Gesicht. So fest in einem fremden Bett zu schlafen …« Wir verstehen: Das kann ihr Mann nicht sein, an den sie so dankbar denkt. Kann es nicht sein, denn ihr einst Angetrauter ist schon seit vielen, vielen Jahren tot.

Per Annonce kennengelernt hat sie jenen, den sie am Morgen auf dem Bahnsteig traf, mit dem sie in den Zoo, dann durch den Eiswald ging und dessen Umarmung sie ersehnte. Was der nächste Morgen bringen wird, wir wissen es nicht. Doch ist zwischen beiden wohl ein Einklang gewesen. Er hatte von der Frau erzählt, die ihn verlassen hat -, auf eine Weise, dass sie es sich vorstellen konnte. Und sie weihte ihn ein in ihren Schmerz.

Vierzehn Monate hatte ihre Ehe mit Ton gedauert, ehe er sich, erst fünfundzwanzig Jahre alt, das Leben genommen hat. Bekleidet mit Jeans, Leinenschuhen und einem blauen T-Shirt, »also alles ganz normal«, hat er sich in seinem Treibhaus für Chicoréekulturen eine Kugel in den Kopf geschossen. Keinen Abschiedsbrief hat er hinterlassen. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, was der Grund gewesen sein könnte.

Dreizehneinhalb Jahre ist die Frau nun schon allein. Sie erinnert sich, wie sie einer Detektivin gleich auf Spurensuche ging, wie sie Verdächtigungen nachjagte, wie es sie beflügelte, durch den Wald zu rennen, wie sie die verlorene Liebe in sich nährte - und das alles hinter einer ganz ruhigen Fassade. Die Trauer wird nicht zur Klage, sondern sinkt tief nach innen, wo alles Mögliche andere noch ist. Es ist wahrscheinlich nicht das letzte Mal, dass sie in dieser schlaflosen Nacht das Leben mit Ton an sich vorbeiziehen lässt.

Wie Margriet de Moor einen so ganz eigenen, leisen Ton für ihr Erzählen findet, lässt sie uns spüren, was Leben ist. Ein Auf und Ab bis zum Ende hin - wir müssen uns diesem Rhythmus fügen, sollten lernen, uns einzuschwingen darauf. Frieden finden - niemand wird uns dafür belohnen, wenn es nicht gelingt. Menschliche Bindung - ein Geschenk. »Dankbar«: Der Begriff kehrt immer wieder. Und es kommt einem auch das Wort »demütig« in den Sinn. Dass der Mensch, ein jeder, ein Geheimnis bleibt, darum wohl vor allem geht es in diesem wunderbaren Roman.

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