Das System funktioniert nicht mehr

Der Anfang vom Ende? Demokraten, Republikaner und die Krise der Politik. Eine Kritik des Wahlsystems der USA

  • John Nichols
  • Lesedauer: 10 Min.

Als der Satiriker und Fernsehmoderator Bill Maher im Wahlkampf 2016 auf den erbärmlichen Zustand der amerikanischen Politik hinwies, sagte er: »Unser System ist beschissen. Die Verfassung muss generalüberholt werden.«

Maher sprach eine Wahrheit aus, über die heutzutage selbst die mutigsten Politiker nicht öffentlich nachdenken und die meisten Medien schlichtweg nicht sprechen wollen: Das amerikanische System funktioniert nicht mehr. Es befindet sich in einer Schieflage und richtet sich gegen die wirtschaftlichen Interessen der großen Mehrheit der Amerikaner. Außerdem dient es nur noch der Aufrechterhaltung eines aus den Fugen geratenen Status quo. Dieses System registriert Politikverdrossenheit durchaus, aber es ist strukturell so angelegt, dass jeder Gegenansatz dazu entschärft und letztendlich besiegt wird.

Daher rühren die Spannungen, die den Wahlkampf 2016 geprägt haben - die wohl unberechenbarste Wahlperiode seit Ende der 1960er Jahre. Sie werden auch nach den Wahlen nicht nachlassen. Aber der Wahlkampf legt die Schwachstellen offen, die beseitigt werden müssten, wenn sich in den Vereinigten Staaten ein neuer politischer Prozess mit einer demokratischen Steuerung herausbilden soll.

Das Hauptproblem ist das Zweiparteiensystem. Es fungierte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fast immer als Auffangbecken für Unzufriedenheit. Aber es verengte damit den Diskurs und schrieb den alten Politikstil fort. Selbst wenn das politics as usual einem einigermaßen nachvollziehbaren und fortschrittlichen Wandel Platz machte, wie in der Dekade zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre, reagierten die Systemwächter im Obersten Gericht und im Kongress darauf mit Ablehnung. Statt die neue Dynamik und damit den Fortschritt zu begrüßen, schlugen sie sich auf die Seite der Reaktion: Indem sie Methoden und Verfahren so veränderten, dass die Parteien und ihre Kandidaten immer mehr von reichen Wahlkampfspendern abhängig wurden und immer weniger vom Wählerwillen.

Seit der sogenannten Reagan-Revolution in den 1980er Jahren buhlen beide Parteien um die Gunst der milliardenschweren Spenderkaste und der Konzernchefs. Dabei entwickeln sie, was der bekannte Verbraucheranwalt und Ex-Präsidentschaftskandidat Ralph Nader ihr »gemeinsames Grundverständnis« nennt. Das große Geld korrumpiere die Politik, die Wall Street überstimme und übernehme Washington, »und unsere Außenpolitik wird immer militaristischer«. Diese Gemeinschaftlichkeit hat die Politik der Kompromisse oft so nervtötend und langweilig gemacht, dass die Wahlbeteiligung selbst bei Präsidentschaftswahlen gerade so eben noch 50 Prozent beträgt.

Die Schuld daran einzelnen Parteispitzen und -kandidaten zuzuschreiben fällt leicht. Aber das eigentliche Problem ist struktureller Art. Das Zweiparteiensystem geht nicht auf ein bewusstes Konzept zurück, sondern ist das Ergebnis amerikanischer Wahlkampfpolitik. Die beiden großen Parteien sind heute strukturell so sehr verankert und abgesichert, dass die Bildung alternativer Parteien immer schwierig ist - und dabei besonders schwierig ausgerechnet dann, wenn ihre Bildung am wahrscheinlichsten wäre: in einem so unvorhersehbaren Wahlkampf, wenn die Wählerinnen und Wähler mit ihren Wahlmöglichkeiten unzufrieden sind.

Die meisten amerikanischen Bundesstaaten machen es neuen Parteien schwer, auf die Wahlzettel zu gelangen. In vielen Bundesstaaten müssen sich alternative Parteien bereits auf den Wahlzetteln registriert haben, bevor in den großen Parteien der Vorwahlkampf stattfindet. Auf diese Weise wird andersdenkenden Kandidaten, die nicht nominiert werden, die Möglichkeit zum Verlassen ihrer Parteien und zum Eingehen neuer Bündnisse vorenthalten - was in flexibleren und besser funktionierenden Demokratien gang und gäbe ist.

Über den Mangel an politischer Flexibilität wird in der Öffentlichkeit nur selten diskutiert. Dabei wäre Flexibilität die Rahmenbedingung für moderne amerikanische Politik und Governance. Das Problem ist, dass der Rahmen nicht einfach nur Brüche aufweist, sondern dass er insgesamt eine Antithese zur Demokratie darstellt.

Eine Reihe von Entwicklungen haben die Anforderungen an die Parteien und die Erwartungshaltung gegenüber der Politik insgesamt stark ansteigen lassen: der Bedeutungsverlust der herkömmlichen und die Revolution der sozialen Medien; die jahrzehntelange Deindustrialisierung; Globalisierung und Automatisierung; die Entstehung neuer Bewegungen, Lohnstagnation, wirtschaftliche Ungleichheit, Geschlechterdiskriminierung, Masseneinkerkerungen, rassistische Polizeiübergriffe und die den Planeten bedrohende Klimakrise. In den USA wächst eine linke Basisbewegung heran, die seit den Occupy- und Anti-Austeritätsprotesten in einzelnen Bundesstaaten sogar von älteren Gewerkschaftsgruppierungen und Mitgliedern des Progressive Caucus im Kongress Unterstützung erfährt. Diese Bewegung zieht die Demokratische Partei aus dem politischen Zentrum nach links, während sie gleichzeitig partei- und wahlpolitische Alternativen entwickelt.

Die USA haben aber auch eine Graswurzel-Rechte, die mit außergewöhnlich reichen Spendern und rechten Medien verlinkt und von diesen abhängig ist. Sie drängt die Republikaner-Partei weiter an den den rechten Rand des politischen Spektrums.

In den Vereinigten Staaten existiert mittlerweile eine ebenfalls wachsende Generation jüngerer, sogenannter Millennial-Wähler, die keiner der beiden alten Parteien nahestehen und sich von diesen oftmals sogar abgestoßen fühlen. Innerhalb der Demokratischen Partei hält sich die Mitte; bei den Republikanern ist der Boden bereits eingebrochen. Und diese Eruptionen sind noch lange nicht vorbei.

Das ist der Hintergrund für die vordergründigen Auseinandersetzungen, über die die Medien berichten. Denn die beiden großen Parteien stehen eindeutig unter einem massiven Veränderungsdruck. Er ist so groß wie in den 1920er und 1930er Jahren. Damals durchlief die Demokratische Partei eine radikale Transformation nach links unter Franklin Delano Roosevelt. Die Republikanische Partei hingegen tauchte in eine 20-jährige Phase des Scheiterns und der Selbstzweifel ein, bis Dwight Eisenhower und das moderne Republikanertum auf der Bildfläche erschienen.

Gleichzeitig widersetzen sich die alteingesessenen Parteieliten seit Jahren jeglichem Wandel, und wenn der Wandel unausweichlich wird, nutzen sie ihn zu ihrem eigenen Vorteil. Die Amerikaner haben die herkömmliche Politik satt, ebenso wie den daraus resultierenden Reformstau, die Ungleichheit und die Ungerechtigkeit. Ein Drittel der Amerikaner sieht in der Unfähigkeit der Washingtoner Regierung, größere Probleme anzugehen, eine »Krise«, 51 Prozent halten sie für »ein großes Problem«. Das ergab eine Gallup-Umfrage im Frühjahr 2016. Ähnlich große Bevölkerungsanteile halten den Hang der Parteiführungen zur Parteidisziplin statt zum Gemeinwohl für eine »Krise« (30 Prozent) oder ein »großes Problem« (55 Prozent). Diese enttäuschten Bürgerinnen und Bürger schieben die Schuld an den Problemen des Landes jedoch nicht ganz auf die beiden großen Parteien, sondern völlig zurecht auch auf eine geistlose und konsolidierte Medienlandschaft.

Die Amerikaner merken langsam, dass mehr Wahlmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht unverzichtbar sind, wenn es eine Regierung geben soll, die ihren Werten und Ansprüchen gerecht wird. Eine Gallup-Umfrage vom September 2016 ergab, dass nur 38 Prozent der Amerikaner die beiden Parteien für fähig und willens hielten, die Bedürfnisse der Bevölkerung wahrzunehmen und zu artikulieren. 60 Prozent der Befragten drückten den Wunsch nach einer weiteren Partei im Land aus. Das ist ein dramatischer Zuwachs im Vergleich zu vier Jahren davor. Damals sagten 45 Prozent, zwei Parteien würden ausreichen, und 46 Prozent wollten mehr als das.

Mehr als die Messdaten sagen aber wahrscheinlich praktische Belege über das Interesse und die Unterstützung für eine Mehrparteiendemokratie aus. Nun stehen zwar Drittparteien in den USA seit jeher viele Hürden im Weg, von der Ausblendung aus den Medien über den Ausschluss von Präsidentschaftsdebatten im Fernsehen bis hin zu den hohen Kosten, die Petitionen für den Eintrag in die Wahllisten verursachen. Trotzdem gelang es der wirtschaftskonservativen und sozialliberalen Libertarian Party, in allen 50 Bundesstaaten und im District of Columbia auf den Wahllisten aufgeführt zu werden. Die Green Party steht in 44 Bundesstaaten sowie im District of Columbia zur Wahl. Zu Beginn des Hauptwahlkampfs lagen die Libertären in vielen Einzelstaaten und in landesweiten Umfragen im zweistelligen Prozentbereich und erhielten sogar Wahlempfehlungen von einigen großen Zeitungen.

Die Grünen kamen landesweit zeitweise auf bis zu fünf Prozent und in großen Bundesstaaten wie Kalifornien sogar noch darüber - was ihnen 2016 rekordverdächtig viele Stimmen einbringen könnte. Darüber hinaus dehnt sich die in New York beheimatete Working Families Party im Eiltempo auf andere Bundesstaaten aus und erscheint damit auf weiteren Wahllisten. Die Partei unterstützt oft linke Demokraten, nominiert bei Wahlen aber manchmal auch eigene Kandidaten und gewinnt dann auch. Hinzu kommen die Wahlsiege der Stadträtin von Seattle Kshama Sawant, die offen für Socialist Alternative antrat. Ihre Erfolge haben weitere Sozialisten im ganzen Land inspiriert, bei lokalen Wahlen zu kandidieren.

Bereits jetzt gibt es ehrgeizige Reformbewegungen mit einem Umschwungpotenzial, das an die »Progressive Ära« vor einem Jahrhundert erinnert. Zwischen 1910 und 1920 sorgten Reformer für Verfassungsänderungen, mit denen die Wahl der US-Senatoren (die zuvor lediglich vom Senat des jeweiligen Bundesstaats ausgewählt wurden), das Frauenwahlrecht und die Erweiterung der bundesstaatlichen Besteuerungs- und Regulationsbefugnisse verankert werden konnten. Sie waren die Grundlagen für Franklin Delano Roosevelts New Deal.

Auch heute entstehen neue Bewegungen für eine Verfassungsreform. Bis Mitte 2016 war die Zahl der einzelstaatlichen Parlamente, die den Kongress zu Verfassungsänderungen und zu einer Wahlfinanzierungsreform auffordern, auf 17 angewachsen. Ziel ist es, allen Kandidaten und Parteien gleiche Ausgangspositionen zu verschaffen. Außerdem entsteht eine neue Wahlrechtsbewegung, die die Hürden für eine gleichberechtigte Wahlbeteiligung aus dem Weg räumen will. Sie geht beispielsweise vor Gericht gegen die Manipulation der Wahlbezirkseinteilung, das sogenannte Gerrymandering, vor. Diesen Trick, mit dem eigene Kandidaten begünstigt werden sollen, wenden beide großen Parteien an.

Eine weitere landesweite Gruppierung namens FairVote hilft Community-Aktivisten in vielen Bundesstaaten bei der Einführung von »Instant-Runoff-« und »Ranked-Choice«-Stimmabgabesystemen. Durch diese wird jede Stimme, die einem unterlegenen Kandidaten gegeben wurde, an einen aussichtsreicheren Kandidaten übertragen (den wiederum der Wähler selbst zuvor ausgewählt hat). Diese Reform verringert die Wahrscheinlichkeit, dass die Unterstützung für einen »idealen« Drittparteikandidaten den Erfolg eines Kandidaten einer großen Partei mindert, sowie umgekehrt. Dadurch ist die Furcht, eine Stimme für einen Kandidaten einer Drittpartei zu verschwenden, gegenstandslos geworden. Das »Ranked-Choice«-Wahlsystem in Städten wie San Francisco hat bereits zur Wahl von Kandidaten aus Drittparteien geführt. Im Bundesstaat Maine gibt es jetzt erstmalig eine Bürgerinitiative für solch ein System, das den gesamten Bundesstaat umfassen soll.

Trotzdem darf die Stärke und Entschlossenheit der radikalen Reformgegner auf keinen Fall unterschätzt werden. Die beiden Großparteien sitzen seit immerhin 160 Jahren auf ihrem Duopol, wobei sie immer dann in Bewegung geraten, wenn es darum geht, eine unabhängige und alternative Partei zu erdrosseln. Es waren die Populist Party, die Progressive Party und die Socialist Party, die manchmal die Definitionsmacht der großen Parteien in Frage stellen konnten. Trotz der erheblichen Unterschiede zwischen Demokraten und Republikanern tun sich beide dann oft zusammen, um die Wahlbezirksgrenzen zu ziehen, die Wahlregeln festzulegen und Opposition auszuschalten. Und wahrscheinlich werden sie es wieder tun.

Wenn amerikanische Politik auch nur ansatzweise funktionsfähig werden soll, dann muss das archaische politische System, das den unpopulären Status quo aufrechterhält, mit strukturellen Veränderungen auf einen neuen Stand gebracht werden. Amerika ist von Bill Mahers Forderung - »Die Verfassung muss generalüberholt werden« - weit entfernt. Auch die Verwirklichung einer parlamentarischen Demokratie nach europäischem Muster wird noch auf sich warten lassen. Aber falls und wenn sich die Parteien ändern, und - wenn sie sich nicht ändern - Drittparteien ins Spiel kommen, dann wäre die Grundlage geschaffen für eine neue Politik, die das alte und dysfunktionale System hinter sich gelassen hat.

Die neue Politik für ein wirklich demokratisches Amerika mit ihren Wurzeln in den Rebellionen von 2016 wäre eher erträglich als das, in den Worten Mahers, »beschissene System«. Den Status quo hält wirklich niemand mehr für akzeptabel.

Der Autor:

John Nichols, Jahrgang 1959, ist der Washington-Korrespondent der US-Wochenzeitung »The Nation«. Zuletzt erschien von ihm gemeinsam mit Robert W. McChesney: »Dollarocracy: How the Money and Media Election Complex is Destroying America.« Eine sehr ausführliche Fassung des hier gekürzt wiedergegebenen Textes ist bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York erschienen und im Internet unter rosalux-nyc.org/de zu finden.

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