Die Metapher einer Revolution

In der Universitätsstadt Kent wurden 1970 protestierende Studenten erschossen, heute demonstriert hier kaum noch jemand

Hana Barkowitz und Alan Canfora sind sehr beschäftigt in diesen Tagen. Da kann es schon mal vorkommen, dass Verabredungen verschoben oder ganz abgesagt werden. Es gibt einfach Wichtigeres zu tun, als mit Journalisten zu sprechen. An fremde Türen klopfen zum Beispiel. Barkowitz und Canfora sind in Kent und Barberton im Nordosten Ohios unterwegs, um mögliche Anhänger Hillary Clintons daran zu erinnern, am Dienstag auch wirklich wählen zu gehen.

Ansonsten trennen beide Welten. Barkowitz ist 20 Jahre alt, Canfora 67. Die Public-Relations-Studentin im dritten Jahr ist Präsidentin der Demokratischen Studenten an der Kent State University und versucht meist vergeblich, unter ihren Kommilitonen Enthusiasmus für politische Mitarbeit zu wecken. Canfora hingegen hat die dunklen Seiten dieses politischen Engagements schmerzvoll erfahren. Am 4. Mai 1970 war er selbst Student in Kent und wurde bei Protesten gegen den Einmarsch der US-Armee in Kambodscha von der Nationalgarde angeschossen. Vier seiner Mitstreiter starben an diesem Tag.

Der Student des Bibliothekswesens hatte sich schon zwei Jahre zuvor einer militanten Studentengruppe angeschlossen. »Wir haben symbolische Gewalt ausgeübt, Sachen angezündet. Zum Beispiel ein Unigebäude, in dem für das Militär geforscht wurde. Es war Gewalt gegen Eigentum. Am Tag danach hat der Staat mit Gewalt gegen Menschen geantwortet«, erinnert er sich. Ein nationaler Studentenstreik folgte dem Schock. »Wir waren am Rande einer echten Revolution, die Arbeiterklasse stand kurz davor, sich uns anzuschließen. Doch dann wurden Fehler gemacht. Und die Bewegung scheiterte, weil wir einem Großteil zu militant waren.«

Vier Jahre später kehrte Canfora zurück, um sein Studium zu beenden. Er kämpft um Gerechtigkeit für die Opfer des 4. Mai und gründete wieder eine, diesmal friedliche, Studentenorganisation. »Die Uni hat lange versucht, uns loszuwerden, aber wir haben es geschafft, dass 1990 ein Denkmal errichtet wurde, und seit 1995 weht ein anderer Wind. Die Leitung der Kent State kümmert sich jetzt um die Hinterbliebenen und führt neue Studenten und Besucher an die Orte des Protests.«

Barkowitz wünscht sich keine neuen Schüsse an ihrer Uni. Aber eine gesunde Protestkultur, das wäre mal was. »Leider ist die heutige Jugend viel zu apathisch und lässt sich schnell ablenken. Zu Demos kommt sie nur, wenn es was zu essen gibt oder irgendwelche Stars kommen«, sagt sie ziemlich desillusioniert. Immerhin hat sie sowohl Hillary Clinton als auch Bernie Sanders an die Uni geholt. Da waren die 6300 Plätze im Memorial Athletic and Convocation Center voll besetzt. »Als ich danach dazu aufrief, bei einer Aktion Wähler anzurufen, kamen nur zwei.«

Canfora sieht die Jugend nicht ganz so skeptisch. »Man sollte sie nicht mit 1970 vergleichen, als wir unseren Höhepunkt erreicht hatten«, sagt er. »Damals ging es um ein großes Thema, den Krieg. Heute engagieren sich auch viele Studenten, aber auf vielen Gebieten. Daher bekommen es nicht so viele Leute mit. Und Leute wie Hana sind ungeduldig. So waren wir auch, als wir jung waren.« Eine neue »politische Revolution«, wie sie Sanders ausgerufen hat, erkennt aber auch Canfora nicht: »Das war nur eine Metapher, die den Nerv desillusionierter junger Menschen getroffen hat. Aber davon gibt es sehr viele im ganzen Land.«

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