Kinderschützer in Not

Jugendamts-Mitarbeiter beklagen in Brandbriefen Arbeitsbedingungen und Personalmangel

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

»Da es keine Reserven mehr gibt, ist das Team nicht mehr arbeitsfähig und die Gefahr, dass das Amt nicht mehr alle Kinderschutzfälle im Blick hat, steigt.« Mit diesen Worten beschreibt Anna Sprenger, zuständige ver.di-Gewerkschaftssekretärin, die Situation im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (RSD) des Jugendamtes Tempelhof-Schöneberg. In einem Regionalteam des Jugendamtes seien - so ver.di - in der vergangenen Woche nur fünf von 21 Sozialarbeitern im Einsatz gewesen. Wegen Krankheit und Urlaub seien elf Beschäftigte ausgefallen, fünf Stellen seien unbesetzt.

Das Problem ist keineswegs neu. Im Jugendamt Mitte musste im Jahr 2015 die Sprechstunde des sozialpädagogischen Dienstes mehrfach wegen Überlastung ausfallen. Und im September 2016 hatte bereits ein Brandbrief aus dem Jugendamt Steglitz-Zehlendorf Aufmerksamkeit erregt. Auch dort hieß es, man sei nicht mehr arbeitsfähig und konzentriere sich »nur noch auf die schlimmsten Fälle«.

Das sollte eigentlich anders sein. Denn zu den Aufgaben der Regionalen Sozialpädagogischen Dienste gehört nicht nur der Kinderschutz in akuten Fällen wie Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch. Vielmehr leistet er den Basisdienst der Jugendämter und ist damit »allgemeine Anlaufstelle für Eltern und junge Menschen bei Erziehungsfragen oder familiären Problemen«. Die Türen des Dienstes sollen Familien offenstehen, die Beratung und Hilfe suchen.

Um solche präventiven Beratungen anbieten zu können, sind aber ausreichend Zeit und genügend Mitarbeiter nötig. An beidem fehlt es in vielen Jugendämtern. Ver.di spricht unter anderem von häufigen Personalwechseln, hohen Fallbelastungen, Bedrohungen durch unzufriedene Bürger und räumlicher Enge. »Standards wie das Vier-Augen-Prinzip bei Hausbesuchen sind durch den Personalmangel gefährdet«, sagt Sprenger. Um den seit Jahren bestehenden Problemen beizukommen, hatten Senat und Bezirke gemeinsam eine Maßnahmenplanung zur »nachhaltigen Sicherung der Aufgabenerfüllung der Berliner Jugendämter« erarbeitet, die von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) bereits im vergangenen Jahr der Öffentlichkeit vorgelegt worden war. Im RSD sollten nicht mehr als 65 Fälle pro Fachkraft bearbeitet werden, hieß es damals. Berechnet wurde, dass dafür 90 Vollzeitstellen fehlen. Die Realität ist heute weit vom damals formulierten Ziel entfernt - aus Kostengründen. Sprenger weiß von Kollegen, die allein 100 Familien betreuen. »Das bedeutet zum Beispiel, für 300 Kinder verantwortlich zu sein, 60 Hilfen zur Erziehung zu leisten und zudem noch zehn Familiengerichtsverfahren zu begleiten.« Daher fordert die Gewerkschaft, »die sofortige und konsequente Umsetzung des Maßnahmenplans«.

Doch nicht nur an Personal mangelt es, auch die Bezahlung ist niedrig. »Bei uns kommt alles zusammen: Schlechte Bezahlung, schlechte Arbeitsbedingungen und ein großes Aufgabengebiet«, sagt Sprenger. Die Gehälter liegen bis zu mehrere hundert Euro brutto unter dem Gehalt einer im Öffentlichen Dienst tätigen Sozialarbeiterin in einem anderen Bundesland. Das liegt daran, dass in Berlin nach dem Tarifvertrag der Länder (TV-L) bezahlt wird, in den Kommunen der Bundesländer hingegen findet der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) Anwendung. Daher fordern ver.di und GEW die Angleichung des TV-L an den TVöD. Die mögliche rot-rot-grüne Koalition unterstützt dies. In der Koalitionsvereinbarung heißt es, der Senat solle »daran mitwirken, dass die Auseinanderentwicklung von TVöD und TV-L zumindest begrenzt, möglichst aber perspektivisch zurückgeführt wird«. Gelegenheit, sich dafür einzusetzen, wird es bald schon geben: Die Tarifrunde der Länder beginnt im Januar 2017.

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