Ist das denn objektive Wissenschaft?

Jörg Meyer über einen kleinen Streit unter ForscherInnen

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 2 Min.

Anke Hassel ist seit September wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. In ihrer Rede beim WSI-Herbstforum am Mittwoch wollte sie eine Lanze dafür brechen, dass man nicht nur meinungsstarkes unter Gleichgesinnten von sich geben solle, sondern sich eine Offenheit dafür bewahren, dass man auch mit dem Klassenfeind im Gespräch bleiben und diesen überzeugen kann ... wollte sie eigentlich sagen.

Der Ansatz der arbeitnehmerorientierten Wissenschaft prägte Ende der 1970er Jahre die Debatten. Die Forschungsthemen sollen sich am Interesse der abhängig Beschäftigten an human gestalteten Lebens- und Arbeitsbedingungen orientieren. Eine arbeitnehmerorientierte Wissenschaft soll zweitens für die sozial- und wirtschaftspolitische Praxis eine Relevanz haben. Und drittens soll sie die enge Kooperation mit den Gewerkschaften suchen, um Probleme in Betrieb und Arbeitswelt schon frühzeitig identifizieren zu können. Kritiker sahen die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr, sprachen von Auftragsforschung für die Gewerkschaften. Die Objektivität wurde ihr abgesprochen.

Anke Hassel wünschte sich beim Herbstforum also von der Wissenschaft, diese möge ergebnisoffen sein und nicht die Interessenleitung zu sehr in den Vordergrund stellen. In den Ohren mehrerer Anwesender wiederholte sie damit die Kritik, die der arbeitnehmerorientierten Wissenschaft die Wissenschaftlichkeit selber abspricht. Aufregung im Plenum und etliche Wortmeldungen waren die Folge. So sagte WSI-Streikforscher Heiner Dribbusch, wirtschaftsnahe Institute würden an ihre Forschungsergebnisse auch nicht »kapitalgeleitet« schreiben und hätten dies auch gar nicht nötig. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) Jutta Allmendinger sagte, zwischen »ergebnisoffen« und »interessengeleitet« bestehe kein Gegensatz, da die beiden auf unterschiedlichen analytischen Aussageebenen lägen.

Es entspann sich eine hitzige Debatte, die man als selbstreferenziell und irrelevant abtun könnte. Doch das ist sie nicht. Eine kritische Sozialwissenschaft ist seit Jahren auf dem Rückzug. Es sind zudem die kritischen Ansätze, die stets unter Rechtfertigungsdruck stehen; oder wurde konservativen Forschungsinstituten je die Wissenschaftlichkeit abgesprochen, wenn sie behaupteten, der Mindestlohn vernichte eine Million Jobs?

Das vor Augen kann man sich darauf verlassen, dass gerade Institute wie das WSI in der Anwendung ihres Handwerkszeugs sehr genau und korrekt vorgehen. Das Bild zu verzerren oder Forschungsergebnisse im Sinne gewerkschaftlicher Positionen zu beugen haben sie auch nicht nötig. Ein kurzer Blick auf die betriebliche Realität reicht oft schon aus, um Missstände zu entdecken.

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