Der Mensch liegt in Ketten

Die Ausstellung »Im Käfig der Freiheit« lotet die Dialektik von Befangenheit und Freiheit aus

  • Martina Jammers
  • Lesedauer: 5 Min.

Akkurat versammeln sich über 100.000 Nordkoreaner alljährlich zum Arirang-Festival, welches zu Ehren der beiden Führer Kim Il-sung und Kim Jong-il in Pjöngjang gefeiert wird, indem deren Taten für das nordkoreanische Volk vollmundig verklärt werden. Der Fotograf Andreas Gursky hat das fragwürdige Spektakel 2007 aus der Vorgelperspektive aufgenommen. Dadurch gleicht die streng reglementierte Tanzchoreographie im Vordergrund einem pink-weißen, monotonen Teppichmuster, während auf der Tribüne im Hintergrund Zehntausende anderer Mitwirkender aus einzelnen farbigen Pappkarten gigantische Bilder nachstellen, die den Effekt einer Großbildleinwand erzielen.

In diesem Fall sind es pittoreske Riesenmagnolien sowie am Horizont ein schneebedecktes Gebirge. Das Arirang-Festival ist seit 2007 gar als größte Veranstaltung seiner Art im Guiness-Buch der Rekorde verbucht. Geradezu schmerzhaft registriert Gursky in diesem Panoramafoto »Pyongyang V« die Diskrepanz zwischen dem geschönten Rhythmus der makellos funktionierenden Massen vor pittoresker Kulisse einerseits und dem Faktum des totalitären Charakters derartiger Großveranstaltungen, sattsam bekannt spätestens von den recht analogen Show-Inszenierungen, welche die Nazis vor 80 Jahren bei Olympia in Berlin und ihren Nürnberger Parteitagen vorführten.

Diese Aufnahme von Gursky steckt vielleicht am bildmächtigsten das Thema der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg ab: »Im Käfig der Freiheit«. Ein anspruchsvolles Unterfangen, dem sich Direktor Ralf Beil und sein Team ausgesetzt haben. »Es geht um die Fragilität der Freiheit - um individuelle, politische, sexuelle, nicht zuletzt auch künstlerische Freiheit«, skizziert Beil sein Projekt. Durch allerlei Machtverhältnisse unterliegt dieses hohe Credo der Selbstbestimmung des Menschen einer steten Bedrohung. Bedeutet beispielsweise die permanente Erreichbarkeit via Smartphone wirklich ein Maximum an Freiheit - oder nicht doch eher das Gegenteil? Unter Berufung auf den Philosophen Peter Sloterdijk, der das Diesseits der Macht als omnipräsente »Tyrannei des Realen« begreift, »illustrieren die Kunstwerke der Ausstellung dies alles nicht, sondern realisieren es formal und inhaltlich auf verschiedene, mitunter überraschende Art«, so Beil.

Höchst irritierend und vor allem dislozierend für den Besucher ist gleich der erste Ausstellungsraum: Hier hängt ein 220 Zentimeter hoher Spiegel, in welchen dank raffinierter Sandstrahltechnik das Motiv eines Maschendrahtzauns eingraviert wurde. So ergibt sich eine höchst paradoxe Situation: Tatsächlich steht der Betrachter vor dem Spiegel, andererseits erblickt er sich dank des Zaunmotivs hinter dem Gatter - und damit auch hinter dem Spiegel. Er ist damit zugleich eingegrenzt wie ausgegrenzt. Aus dieser absurden Konstellation resultiert das Gefühl von gleichzeitiger Macht und Ohnmacht, von Freiheit und Unfreiheit.

Unwillkürlich gemahnt diese unwirkliche Wirklichkeit nicht allein an Lewis Carrolls Kinderbuch »Alice hinter den Spiegeln« mit seiner surrealen Parallelwelt, sondern überdies an Rousseaus negative Erkenntnis »Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten.« Diese bittere Wahrheit drängt sich einem noch intensiver auf beim Betrachten der Serie »Tokyo Novelle« (1995) des 1940 geborenen Nobuyoshi Araki, der seine täglichen Foto-Exkursionen in Tokio als Ich-Erzähler begreift. Bei den nun gezeigten Aktfotos befremden die kunstvollen Fesselungen der weiblichen Modelle, die auf japanische Kampftechniken und Folterpraktiken seit dem 15. Jahrhundert ebenso rekurrieren wie auf die legendäre Verpackungskunst der Japaner. Die Fesselungsakte zählen zweifelsohne zu den umstrittensten Motiven Arakis, setzen sie doch die physische Unterwerfung der weiblichen Person voraus.

Es ist schon eine komplizierte Sache mit der Freiheit. Am ehesten kann man sie wohl ex negativo beschreiben: Ob im Leben oder in der Kunst, irgendwo stoßen wir immer an Grenzen. Die Verfasserin dieser Zeilen war während ihres Studiums in Wien täglich amüsiert und berührt von dem Diktum der Universität in der Eingangshalle: »Die Wissenschaft ist frei«. Unter den Goldlettern hatte ein ernüchtertes Mitglied dieser Wissenschaftsgemeinde handschriftlich ergänzt: »Wäre schön gewesen.«

Weit drastischer als der Forschergemeinschaft erging es US-Soldaten während des Zweiten Weltkriegs. Auf zwei Ein-Dollar-Noten aus den 1940er Jahren finden sich handschriftliche Notizen. Der niederländische Künstler Gert Jan Kocken (geb. 1971) hat diese fotografisch auf zwei Meter vergrößert, so dass sie nun gut lesbar sind. In der Mitte der einen Geldnote sind es die Namen der Crewmitglieder des ebenfalls verzeichneten B-29-Langstreckenbombers »Enola Gay«. Im Zentrum sowie am Rand des zweiten Dollarscheins lassen sich die Namen der Bomberbesatzung der »Bock’s Car« entziffern.

Die erstgenannte Besatzung warf am 6. August 1945 eine Atombombe auf Hiroshima, die zweite Crew drei Tage später eine weitere Bombe auf Nagasaki. Bekanntlich klärte erst auf dem Hinflug der Pilot Paul Tibbets seine Besatzung darüber auf, dass sie die verheerende radioaktive Bombe abwerfen sollten. Ohne Frage ein extremer Fall von missbrauchter Freiheit, der Parallelen zur Diskussion um Ferdinand von Schirachs Theaterstück »Terror« aufkommen lässt. Rechtfertigt der Bombenabwurf, der letztlich die Japaner zur Kapitulation und mithin zur Beendigung des Weltkriegs geführt hat, die Aufopferung von einer Viertelmillion Menschen?

Einen tragischen Einzelfall nimmt sich der Schweizer Rémy Markowitsch zum Ausgangspunkt: Zentrales Thema seiner Installation ist die Rolle, welche der österreichische Ingenieur jüdischer Herkunft, Josef Ganz (1898-1967), bei der Entwicklung des Kleinwagens gespielt hat. Hierzu hat Markowitsch neben Materialien aus dem Nachlass des Ingenieurs Ganz auch Dokumente aus Archiven zusammengetragen, die er in Werken seiner multimedialen Rauminstallation bündelt und zu provokanten Assoziationen formuliert.

Sinnreich durchleuchtet Markowitsch solche Buchseiten, die sich dem Erfinderpotenzial von Ganz verschreiben wie auch der gnadenlosen Ausbeutung durch die Nazis, die ihm die Patente streitig machten, um daraus selbst den Prototypen des VW Käfer zu realisieren. Nicht nur die Wissenschaft ist weniger frei als erwünscht. Der Ideenklau ist omnipräsent in der Produktionsentwicklung. Daran gemessen, ist der von Jeff Koons inszenierte Trillerpfeifendiebstahl harmlos: In seiner Skulptur »Bear and Policeman« hat ein geschnitzter Braunbär - kurioserweise gefertigt von sogenannten »Herrgottsschnitzern« in Oberammergau - einem Polizisten die Trillerpfeife entwendet; mithin das Symbol für die Potenz der Staatsgewalt! Damit hat der Bär den Bobby, der seinen Schlagstock verschämt hinter seinem Rücken hält, fest im Griff.

Rosa Luxemburgs Minimaldefinition findet hier ein beredtes Bild: »Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden.« Koons hat die aussichtslose Situation selbst kommentiert: »Bei der Skulptur wird ein Mann als sexuelles Spielzeug missbraucht. Damit sollte eine außer Kontrolle geratene Banalität illustriert werden - die Möglichkeit, dass irgendein Popanz auftaucht und Macht demonstriert.« Die Wolfsburger Schau schärft unseren Sinn für diese Gefahr der Freiheitsberaubung.

»Im Käfig der Freiheit« - bis zum 15. Januar im Kunstmuseum Wolfsburg, Hollerplatz 1, 38440 Wolfsburg

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