Aleppo will »Salama« - hundert Mal Frieden

Die Bevölkerung von Syriens zweitgrößter und zweigeteilter Stadt und ihre Sehnsucht nach Normalität

  • Karin Leukefeld, Aleppo
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist kalt geworden in Syrien. In der zweiten Novemberhälfte sinken die Temperaturen bis auf den Nullpunkt. Am Stadtrand von Homs, an der Straße nach Salamiye, haben die Soldaten die Wollmützen tief ins Gesicht gezogen. Ihre warmen Jacken sind fest verschnürt, immer wieder reiben sie die Hände aneinander, wenn sie die Papiere der Reisenden kontrollieren. »Nach Aleppo? Eine deutsche Journalistin«, fragt der junge Soldat ungläubig und beugt sich herunter, um einen Blick in den Wagen zu erlangen. »Herzlich Willkommen und gute Fahrt«, lächelt er dann.

Bei Salamiye zweigt die Schnellstraße nach Raqqa in Richtung Osten ab. Zunächst führt sie über sanfte Hügel durch Oliven- und Zypressenhaine, bis sie die Badia, die Wüste, erreicht. Dann zieht sie sich nahezu schnurgerade durch die endlose, trockene Weite. Hinter Scheich Hilal, einem Ort mit den markanten, pyramidenförmigen Lehmhäusern der Beduinen, säumen nur Armeeposten die Straße, die einst zu den historischen Stätten von Sergiopolis und Resafa führte. Bei Khirbat Isriyah können nur Militärfahrzeuge und selten Busse weiter Richtung Osten nach Raqqa passieren. Die Straße nach Aleppo biegt hier nach Norden ab und führt durch einen vom Militär frei gekämpften »Korridor« über Khanasir bis nach Sfire.

Westlich der schmalen Straße werden Rückzugsgebiete der Nusra-Front bekämpft. Östlich beginnt hinter der Hügelkette des Jabal Hoss der Einflussbereich von Daesh, wie die Syrer nennen, was wir unter Islamischer Staat kennen. Daesh steht für »Ad-daula al-islamiyya fi l-Iraq wa-š-Šam« - Islamischer Staat in Irak und der Levante. Der »Korridor« ist dicht befahren. Schwere Lkw transportieren Güter, Busse bringen Menschen nach Aleppo. In der Gegenrichtung fahren hoch mit Baumwolle, kunstvoll bearbeiteten Steinen oder Metallschrott beladene Laster nach Homs und Damaskus.

Hinter Sfire geht es nach Westen weiter. Auf den Feldern wird geerntet. Seit fast einem Jahr hat es nicht geregnet, und doch belohnt der fruchtbare Boden die fleißigen Bauern noch immer mit Obst und Gemüse. Auf kleinen Lieferwagen werden die Früchte in die Stadt auf die Märkte gebracht. Die hohen Transport- und Energiekosten, unter denen das Land wegen des Krieges und europäischer und US-amerikanischer Sanktionen leidet, haben die Preise verzehnfacht. Milchprodukte sind noch teurer geworden. Fleisch kann sich kaum noch eine Familie leisten.

Von Süden erreicht man Aleppo über eine schmale Landstraße durch Ramousseh, wo im August noch heftig gekämpft wurde und es auch heute nicht immer sicher ist. Auf einer Seite der Straße stehen in Abständen Panzer, auf der anderen Seite ist ein hoher Erdwall aufgeschichtet, auf dessen Spitze zweifach übereinander alte, mit Sand gefüllte Ölfässer gestapelt sind. Kurz bevor Ramousseh in den Stadtteil Salahaddin übergeht, wird der Verteidigungswall höher. Hier dienen statt der Ölfässer ausgebrannte Buswracks als Feuerschutz für die Soldaten, die neue Angriffe aus dem Südwesten der Stadt stoppen sollen.

Schwarz starren ausgebrannte Fensterhöhlen aus den zerschossenen Hochhäusern von Salahaddin. In manchen Stockwerken leben Menschen, wie man an der bunten Wäsche erkennen kann, die auf den Balkonen hängt. Der andere Teil des selben Hauses ist zerbombt. Die Balkone sind von oben herab übereinander eingefallen.

Es ist früher Nachmittag, und aus kleinen und großen Bussen strömen die Menschen heraus und verschwinden dicht aneinander gedrängt zwischen den Gebäuden. Am Rand der einst stattlichen breiten Straße stehen grüne Busse Stoßstange an Stoßstange aufgereiht. Zerschossen, verbeult und kaputt ist dieser frühere Stolz des öffentlichen Nahverkehrs zwar fahruntüchtig, doch bieten die Fahrzeuge den Inlandsvertriebenen immerhin ein Dach über dem Kopf.

Seit Beginn der letzten Offensive bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen aus dem Südwesten auf die Stadt sind nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz erneut 8000 Menschen in die Stadt geflohen. Unterschiedlichen Angaben zufolge haben bis zu 30 000 Menschen im Westteil Aleppos Zuflucht gesucht. Da aber nicht alle Flüchtlinge auch registriert wurden, dürfte die reale Zahl höher sein. Hilfsorganisationen und örtliche Stiftungen versorgen die Menschen täglich mit einer warmen Mahlzeit. Sie erhalten Zugang zu Trinkwasser und werden medizinisch versorgt. Für die Kinder wird mit Hilfe des UN-Kinderhilfswerks Schulunterricht organisiert.

Vertrieben sind in gewisser Weise auch die Mitarbeiter und Patienten der Organisation »Hilfe zur Selbsthilfe«, die von Zeynep Khawla 2006 gegründet wurde. Die Mutter eines behinderten Sohnes führt durch die provisorischen Räume, die der Organisation von der Stadtverwaltung Aleppos zur Verfügung gestellt wurde: eine Schule, medizinische Trainingsräume, Lehrwerkstätten für Holz- und Textilarbeiten, Räume, in denen individuell physisch und psychisch behinderte Patienten betreut werden, Kinder bis zu jungen Erwachsenen.

2012 seien sie vor Milizen aus einem östlichen Stadtviertel geflohen, erklärt die energische, hochgewachsene Frau, die als unabhängige Abgeordnete im syrischen Parlament sitzt. 11 000 behinderte Kinder und Jugendliche seien aktuell in Syrien registriert, sagt sie: »8000 waren es 2011, seit Beginn des Krieges sind 3000 neue Fälle hinzugekommen.« Plötzlich erschüttert eine laute Detonation das kleine Büro. Wenige hundert Meter weiter ist ein Geschoss eingeschlagen, eine Mörsergranate vermutlich. Ungerührt zieht Khawla ihr Handy hervor und präsentiert ein Bild, auf dem ein verbogenes, teils verschmortes Metallstück zu sehen ist. »Fünf Kilo hat dieses Stück gewogen, das auf unserem Balkon gelandet ist«, erklärt sie. Die Detonation habe sämtliche Fenster in ihrer Wohnung zertrümmert. »Diese neuen Raketen fliegen bis zu 20 km weit und treffen unsere Häuser und Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten und kürzlich sogar die Universität«, so Khawla. Vier Studenten starben bei dem Angriff auf die Universität. Getroffen wurde auch das Gebäude, in dem obdachlose Familien untergebracht sind.

Trotz der ständigen Raketen- und Granateneinschläge, trotz täglicher Zerstörung und Tod, sind die Cafés und Restaurants abends erleuchtet und gut besucht. Ein Café in Assassiya ist für sein Hetaliye berühmt, eine Vanillesüßspeise mit Eis, die selbst bei niedrigen Temperaturen großen Absatz findet. »Mie Sahar«, sagt der Kellner, als er die Schalen auf den Tisch stellt. »100-mal guten Appetit.«

Die Aleppiner haben weder ihre Herzlichkeit noch ihren Humor verloren. Auf dem Markt an der Al-Razi-Straße scherzen die Leute trotz der widrigen Umstände. »Wenn Sie von dort drüben ein Falafel essen, können Sie gleich ins Al-Razi-Krankenhaus gehen«, ruft grinsend ein junger Mann und zeigt auf einen Imbiss.

»Kaufen Sie Nudeln, das Kilo nur 100 Lira«, wirbt ein anderer und schwenkt eine rote Handschaufel, mit der er die Ware abfüllt. Altkleider, Schuhe, Taschen, Möbel, fast alles findet man an diesen Markständen für wenig Geld. Verkauft wird auch, was möglicherweise als Spende gedacht war oder aus leerstehenden, zerstörten Häusern gestohlen wurde. Der Krieg entwickelt seine eigene Ökonomie.

»Mehr als 50 Prozent der Aleppiner in den östlichen Stadtteilen werden von Milizen der Nusra-Front, Ahrar al-Sham und Nur-el-Din el-Zenki als Geiseln gehalten«, vermutet Fadi Ismail, Vertreter des Ministeriums für Nationale Versöhnung in Aleppo. Noch vor wenigen Monaten sei es möglich gewesen, die Frontlinie in die »belagerten Viertel« zu überqueren. Er selbst habe das oft getan. Dafür habe er sich einen Bart wachsen lassen, eine Mütze aufgesetzt und den Anzug gegen Alltags- oder traditionelle Kleidung gewechselt. Er hab mit vielen gesprochen, um zu erfahren, was die Menschen dächten. Sie seien müde und erschöpft von den täglichen Kämpfen.

Als sie hungerten, hätten sie dagegen protestiert, dass Nahrungsmittel und Hilfsgüter von den Rebellenmilizen in Hallen unter Verschluss gehalten wurden. Während des Gesprächs klingelt immer wieder das Handy und Leute aus den östlichen Stadtvierteln rufen ihn an. Jemand hat ihm einen Videoclip per Handy geschickt, auf dem vielleicht 100 Menschen eine Straße entlang laufen. In einem anderen Clip ist sogar ein Bild von Präsident Baschar al-Assad zu sehen, das jemand »subversiv« aufgehängt hat. Niemand wolle eine Teilung der Stadt, wie von dem UN-Sondervermittler Staffan de Mistura vorgeschlagen, sagt Fadi Ismail. Alle wollten endlich ihr Leben und Aleppo wieder aufbauen.

Drei Tage und viele Begegnungen später, verabschiedet sich Ismail und wünscht »Mie Salama« - hundert Mal Frieden. Mehr als 10 000 Männer haben die Waffen niedergelegt. Die Zahl der lokalen Waffenstillstandsabkommen ist landesweit auf 986 angestiegen. Ein klares Signal, dass die Syrer die Gewalt beenden wollen. Dann kann die schwierige Versöhnung beginnen.

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