Herrschaftsfreiheit ohne Chaos

Soziologe Bernd Drücke will mit Vorurteilen gegenüber Anarchismus aufräumen

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 3 Min.

Anarchismus wird immer wieder mit Gewalt, Terror und Chaos in Verbindung gebracht. Der Münsteraner Soziologe Bernd Drücke versucht seit vielen Jahren dieses Bild zu korrigieren. Er gibt die Zeitschrift »Graswurzelrevolution« heraus, die ein wichtiges Forum der gewaltfreien libertären Bewegung ist. Dass der Historiker Timothy Snyder in einem »Spiegel«-Interview die Behauptung aufstellte: »Hitler war kein Staatsmann oder Nationalist, sondern ein in rassistischen Theorien denkender Anarchist« ist für Drücke eine besondere Diffamierung von Menschen, die sich für eine herrschaftsfreie Gesellschaft einsetzen.

In dem kürzlich im Unrast-Verlag herausgegebenen Buch »Anarchismus Hoch 3« lässt er Menschen zu Wort kommen, die sich als Anarchisten oder Libertäre verstehen. Es ist der dritte Band einer Trilogie über die aktuelle anarchistische Bewegung. »Ja! Anarchismus« und »Anarchismus Hoch Zwei« hießen die beiden Vorgänger.

Auch im dritten Buch gibt Drücke wieder einen guten Überblick über das anarchistische Milieu. So berichtet Andreas Ess über das letztlich gescheiterte Projekt A. Es war der Versuch, in einer Kleinstadt ein libertäres Milieu zu etablieren, in dem Politik und Alltag verbunden werden. Ess schildert, wie er als Jugendlicher und Arbeiter in einer Kohlenzeche tunlich vermied, als Anarchist aufzutreten, dafür aber jede freie Minute für die anarchistische Arbeit nutzte. Der in Hannover lebende Krankenpfleger Heiko Maiwald hingegen verknüpft Politik und Beruf. Als Aktivist der Basisgewerkschaft FAU kämpft der Krankenpfleger für bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen.

Libertäre Tierrechterinnen werden in dem Buch ebenso vorgestellt wie ein Veteran des gewaltfreien Anarchismus. Mehrere Interviewpartner arbeiteten in libertären Verlagen wie Unrast, Edition Nautilus, Assoziation A und Black Pigeon. Auch die Regisseure Moritz Springer und Marcel Seehuber, die in ihren Anfang 2016 fertig gestellten Film »Projekt A« anarchistische Projekte aus verschiedenen europäischen Ländern dokumentierten, kommen in dem Buch zu Wort.

Vier Interviews widmen sich der anarchistischen Bewegung im Ausland. Ralf Dreis schildert beispielsweise die Situation der Anarchisten in Griechenland und kritisiert die SYRIZA-Regierung scharf. Anett Keller spricht über die oppositionellen Kräfte in Indonesien, die sich bis heute nicht von den Massakern erholt haben, mit denen die Opposition Mitte der 1960er Jahre zerschlagen wurde. Auch Ismail Küpeli nimmt in seinem Türkei-Überblick die gesamte oppositionelle Bewegung in den Blick. »Die sozialen Bewegungen sind noch da, trotz der Repression, trotz des brutalen Vorgehens des Staats«, zieht er ein vorsichtig optimistisches Fazit. Sehr treffend ist auch die Einschätzung des russischen Anarchisten Vadim Damier zum Ukrainekonflikt. »Für uns ist das vor allem ein Machtkampf zwischen den kapitalistischen Oligarchie-Cliquen, die leider imstande waren, die Massen für sich zu qualifizieren«, so Damier. Er lehnt daher die Parteinahme für eine Seite ab.

Mit dem Buch hat Drücke einen wichtigen Beitrag zur Bestandsaufnahme der aktuellen libertären Bewegung geleistet. Die politischen Widersprüche zwischen den Strömungen werden deutlich, aber auch das Potenzial und die Rolle, die die Bewegung für eine außerparlamentarische Linke spielen kann.

Bernd Drücke, Anarchismus Hoch 3, Utopie, Theorie, Praxis. Unrast Verlag, Münster 2016, 16 Euro, ISBN. 978-3-89771-219-5

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal