Im Lichte geschwisterlichen Briefwechsels

Wilfried Bölke begab sich auf die Spuren von Heinrich Schliemann

  • Armin Jähne
  • Lesedauer: 4 Min.

Noch im Jahre 2000 vermerkte das Internationale Lexikon der Freimaurer, dass Heinrich Schliemann (1822 - 1890) einer der ihren gewesen sein soll. Was lange Zeit nur eine Vermutung war, ist nun zur Gewissheit geworden. In einem seiner Briefe an die Schwestern (März 1868, Paris) äußert er beiläufig: »Heute Abend haben wir großes Gastmahl in unserer Freimaurerloge, genannt ›le Grand Orient‹. Ich gehe mit großem Widerwillen dahin; die Pflicht der Selbsterhaltung aber nöthigt mich dazu, denn ich muß Alles aufbieten, um mich zu zerstreuen.« Das ist die erste, bei Wilfried Bölke öffentlich dokumentierte Nachricht über Schliemanns Zugehörigkeit zu den Freimaurern, die von den Nachkommen seiner russischen Familie geheim gehalten wurde, angesichts des schlechten Leumunds der Logenbrüder insbesondere in Russland.

Nun ist natürlich zu fragen, ob Schliemanns Freimaurertum irgendeine Bedeutung für seine Entwicklung als Archäologe hatte oder eben nur eine Belanglosigkeit darstellt. Das Letztere ist wohl der Fall, aber andererseits gibt es in Schliemanns Leben fast nichts, was nicht in irgendeinem Zusammenhang mit seinen Geschäften und später seiner Grabungstätigkeit in Troia und Griechenland stand; man denke nur an seine russische und amerikanische Staatsbürgerschaft. Die Zugehörigkeit zu den Freimauern bot ihm freien Zugang zu deren weit verzweigten Netzwerken.

Nun hat sich Bölke, lange Jahre Direktor des Heinrich-Schliemann-Museums in Ankershagen, mit seinem quellengesättigten, großartigen Buch über Schliemanns Leben im Briefwechsel mit seiner mecklenburgischen Familie und anderen Mecklenburgern einem scheinbar randständigen Thema zugewandt. Aber was auf den ersten Blick an etwas Nebensächliches denken lässt, entpuppt sich beim genauen Hinsehen als entscheidend, zeigt es doch Schliemann als sozial mitfühlenden und handelnden Menschen. Im Briefwechsel offenbaren sich die Zwiespältigkeit seines Charakters, seine Großzügigkeit wie auch sein pedantisch-kleinliches Gehabe. Es finden sich Querverweise auf seine russische Ehe und seine griechische Familie mit Sophia Engastromenos als jugendlicher Gattin, auf seine Geschäfte und unternehmerischen Sorgen und seine Grabungstätigkeit. Aber noch entscheidender ist, dass es mit Hilfe dieser kenntnisreich und einfühlend kommentierten Briefedition möglich wird, Schliemanns autobiografische, sich selbst idealisierende Eigeninszenierung gründlicher zu durchleuchten und die spätere Wertung seiner Persönlichkeit kritisch zu hinterfragen.

Das betrifft vornehmlich das Urteil seines Biografen Ernst Meyer, der sehr um ein positives Bild seines Helden bemüht war. Die drei von ihm edierten Bände der Schliemannschen Korrespondenz weisen Lücken in der Briefauswahl und Auslassungen auf, um zu vermeiden, dass irgendein Schatten auf jenen fallen und er seiner Größe entkleidet werden könnte. Bölke hingegen nimmt keine Rücksicht und zerstört schonungslos die »Legende«. Schliemanns schillernde Persönlichkeit gewinnt dadurch an Wahrhaftigkeit und an Sympathie.

Bölke erhielt als erster Schliemannforscher 1985 Zugang zu allen bis dahin unter Verschluss gehaltenen Ankershagener Predigerakten. Sie erlaubten ihm einen tieferen Einblick in die Kinderjahre, die geprägt waren von einem Wüstling als Vater ohne Moral und Anstand. Dies musste beim sensiblen Sohn zu seelischen wie sozialen Traumata führen. Sie stimulierten zugleich seinen beständigen Drang nach oben, nach Bildung, sozialem Aufstieg, nach Anerkennung und Ansehen. Überhaupt war Schliemann ein Mann, der an Katastrophen und Lebenskrisen nicht verzagte, sondern daraus Kraft für seine weiteren Unternehmungen zog.

Der Briefwechsel vermittelt einen tiefen Einblick in einen weit verzweigten Familienverband, dem sich Schliemann uneingeschränkt zugehörig fühlte. Er half den Seinen (und nicht nur ihnen), wenn finanzielle Not drohte, sparte dabei nicht mit Ermahnungen, ja knüpfte seine Geldgeschenke an klare, einzuhaltende Bedingungen. Er mischte sich ein, wenn es ums Heiraten oder das berufliche Fortkommen ging. Ambivalent blieb das Verhältnis zum Vater, den er sogar gegen dessen Willen mit Geld unterstützte, dem er nicht selten bittere Vorhaltungen machte und von dem er sich zeitweise immer wieder abwandte. Aber auch die Geschwister versuchten auf den Bruder, der sich gleichsam als Familienoberhaupt fühlte, Einfluss zu nehmen, so beim Versuch, seine russische Ehe zu retten. Dass ihnen sein Erfolg als Troia-Ausgräber, als weltweit gefeierter Archäologe schmeichelte, kann nicht verwundern.

Bölkes Buch ist aber noch in anderer Hinsicht äußerst bedeutsam. Jürgen Kuczynski, der Nestor wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Forschung in der DDR, soll einmal gesagt haben, dass dieser selbst für das 19. Jahrhundert der Mangel an statistischen Angaben oder serieller Häufung von Quellen im Wege stünden. Bölke wertete - neben anderen Dokumenten - etwa 2500 Briefe aus und schöpfte daraus ein reiches Faktenmaterial, an dem heute keine Sozial- und Kulturgeschichte Mecklenburgs mehr vorbeikommen wird. Der verdienstvolle Schliemannforscher hat sein wissenschaftliches Opus magnum vorgelegt. Dafür gebührt ihm Dank, auch dafür, dass sich das Buch gut liest und es mit zahlreichen Illustrationen aufwartet.

Wilfried Bölke: »Dein Name ist unsterblich für alle Zeiten«. Das Leben Heinrich Schliemanns im Briefwechsel mit seiner mecklenburgischen Familie. Wellem Verlag Duisburg. 709 S., geb., 79 €.

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