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Serbien: »Wir stehen vor dem Konflikt zwischen zwei Zukünften«
Der Philosoph Igor Štiks im Gespräch über die Proteste in Serbien, Chancen der Bewegung und die Rolle der EU
Die von Studierenden getragenen Proteste in Serbien ebben nicht ab. Am 28. Juni gab es erneut Großdemonstrationen mit rund 150 000 Teilnehmenden. Seitdem gibt es immer wieder Straßenkämpfe und Blockaden im ganzen Land. Die Forderung sind vorgezogene Wahlen und Freilassung aller verhafteten Demonstrierenden. Werden die Studierenden gewinnen?
Das ist die Millionenfrage. In gewisser Weise haben sie schon gewonnen, wenn man an die Herzen und Köpfe der Menschen denkt. Sie haben fast die ganze Gesellschaft für die Idee der Gerechtigkeit mobilisiert. Das war abstrakt genug, um viele mitzuziehen. Außerdem haben sie direkte Aktionen wie Märsche, Versammlungen und Performances genutzt – das hat vielen das verloren gegangene Gefühl von Zusammenhalt zurückgegeben. In dieser Hinsicht ist das ein großer Sieg. Aber das heißt natürlich nicht, dass sie auch politisch gewonnen haben.
Also anders gefragt: Können die Studierenden gegen Aleksandar Vučić und das von ihm geschaffene System gewinnen?
Es gibt dazu zwei Ansichten. Die einen sagen: Nein, das geht mit solchen Bewegungen nicht. Vučić ist legal gewählt und international anerkannt. Um das Regime zu stürzen, bräuchte es Neuwahlen. Die andere – eher idealistische – Meinung ist, dass Studierende und Bürger den Druck so lange hochhalten müssen, bis das System von selbst implodiert.
Welche der beiden Strategien ist erfolgversprechend?
Der realistischere Weg ist, auf institutionelle Lösungen wie Neuwahlen zu setzen. Aber auch die werden wieder unter Kontrolle des Regimes stattfinden, also nicht wirklich frei und fair sein. Das ist der klassische Mechanismus des Machtwechsels und würde von der EU und anderen unterstützt. Die Frage bleibt: Kann man das Regime bei unfairen Wahlen schlagen? Das ist eine offene Frage, die über der Bewegung schwebt.
Igor Štiks ist Schriftsteller, Philosoph und Professor an der Fakultät für Medien und Kommunikation in Belgrad. Auf Deutsch erschienen von ihm »Ein Schloss in der Romagna« (2002) und »Die Archive der Nacht« (2008). Mit Krunoslav Stojaković veröffentlichte er »The New Balkan Left«.
Das klingt ziemlich pessimistisch.
Ja, das ist es auch. Wir sind in einer paradoxen Situation: Die Studierenden und viele Bürger haben die Schlacht um Legitimität gewonnen. Die Mehrheit steht hinter den Forderungen der Studierenden. Aber institutionelle Wege zum Wandel sind blockiert, weil Vučić keine Verhandlungen zulässt. Wir warten also auf das Unerwartete, wie die Tragödie von Novi Sad, die alles verändert hat.
Kann so ein unerwartetes Ereignis erneut eintreten?
Das Unerwartete kann wieder kommen – vielleicht wenn das Regime in Panik gerät und damit eine Revolte provoziert. Gleichzeitig hat Vučić es geschafft, sich Unterstützung von Russland, China, der EU und wahrscheinlich auch den USA zu sichern. Das hat es so noch nie gegeben. Das gibt ihm die Zuversicht, gegen die Bewegung bestehen zu können.
Die Heuchelei der EU ist dabei offensichtlich: Die Studierenden kämpfen für Ideale, die eigentlich die EU ausmachen sollten, aber die EU unterstützt lieber Stabilität und wirtschaftliche Interessen, zum Beispiel das Lithium-Projekt in Westserbien. Die Bürger erleben das als Verrat an Demokratie und Rechtsstaat. Wir sind jetzt in einer Phase, in der serbische und andere Gesellschaften in der Region sich immer mehr lateinamerikanischen Verhältnissen annähern: Lokale Oligarchien dienen internationalen Interessen.
Vučić ist somit Garant für Stabilität in der Region?
Ja, er spielt mit Interessen, etwa denen der deutschen Autoindustrie. Die westlichen Akteure setzen auf ihn, weil er liefert, wie Ursula von der Leyen gesagt hat. Das ist Realpolitik: Wirtschaftliche und geopolitische Interessen zählen. Vučić weiß das zu nutzen. Im Land selbst aber schwinden die Unterstützung für ihn und seine Legitimität. Gleichzeitig hat er die Institutionen in Serbien untergraben und überall Loyalisten platziert. Sein Regime ist eng mit der Unterwelt verstrickt – das ist kein Geheimnis.
Im Vergleich zu den viel kleineren Protesten in Georgien seit vergangenem Oktober oder auch dem Euromaidan von 2014 in der Ukraine ist die westliche Unterstützung für die serbischen Proteste gleich null. Das Vertrauen in die EU ist am Tiefpunkt – kurioserweise ist jetzt Vučić der größte Fürsprecher der EU-Mitgliedschaft.
Bei den Protesten sieht man kaum EU-Flaggen, sondern meist serbische Fahnen. Ist der Westen als Vorbild verschwunden?
Die Proteste sind ideologisch sehr unterschiedlich, was Außenstehende oft verwirrt. Die Studierenden setzen auf direkte Demokratie, etwa Plena, was eher links ist. Ihre Forderungen sind aber sehr liberal: Sie wollen unabhängige Justiz, Rechtsstaat, Transparenz. Auf den Straßen gibt es viele nationale Symbole, Slogans und auch Nationalismus. Das wird als neue Zusammengehörigkeit oder sogar neuer Patriotismus empfunden.
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Nach der Tragödie vom 1. November 2024 in Novi Sad kam es zu den Protesten. Es gab schon vorher viele Skandale und Gewalt. Warum jetzt diese Bewegung?
Die Studierenden wurden erst nach dieser Tragödie politisch aktiv. Davor hat sie Politik kaum interessiert. Die Gesellschaft hat aber 13 Jahre voller Skandale, Kriminalität, Drogenschmuggel und Gewalt erlebt – das hat sich alles angestaut. Die vorherigen Proteste konnten nie so viele Menschen mobilisieren. Jetzt war es einfach zu viel. Manchmal braucht es so einen Auslöser. Wir sind nun in einer politischen Krise, in der viele Menschen nicht mehr bereit sind, einfach aufzugeben.
Gibt es auch sozioökonomische Gründe für die Proteste?
Sicher, aber es wäre zu einfach, alles auf Armut oder Arbeitslosigkeit zu schieben. Durch die Öffnung des Landes für Investoren und viele fragwürdige Deals gibt es mittlerweile sogar mehr Jobs. Bisher hat Vučić den Arbeitern gerade genug gegeben, um einen Aufstand zu verhindern. Jetzt gehen aber viele verschiedene Schichten gemeinsam gegen das Regime auf die Straße, weil sie keine Zukunft mehr in Serbien sehen. Außerdem ist die Angst vor dem Ausverkauf des Landes und vor Umweltzerstörung groß; die Menschen spüren, dass ihnen buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Die Bewegung vereint verschiedene gesellschaftliche Gruppen, aber bei weitergehenden sozialen Forderungen bin ich skeptisch, ob das heute mobilisierend wirken würde. In ganz Europa hat die Linke dieses Potenzial verloren. In Serbien kämpft die Bewegung im Moment erst einmal um die grundlegendsten demokratischen Rechte.
Ist im Zuge der Proteste auch eine neue politische Kultur entstanden?
Auf jeden Fall. Für jemanden, der wie ich im Bereich der aktivistischen Ästhetik gearbeitet hat, ist dies ein beeindruckendes Beispiel für politische Kreativität. Die letzten Monate waren voll damit. Es ist für viele völlig normal geworden, jeden Tag auf Demos zu gehen, abends ins Plenum oder zu politischen Debatten. Das hat auch das Alltagsleben verändert – im Moment herrschen noch Optimismus und Hoffnung, aber auch Angst vor dem, was kommt.
Wenn die Protestbewegung siegt, wird das Land von Mut und Optimismus geprägt sein. Wenn das Regime sich durchsetzt, wird es Depression geben und eine Abwanderung der Jungen. Schafft es Vučić, die Universitäten von kritischen Studierenden und Professoren zu säubern, werden viele das Land verlassen. Wir stehen vor dem Konflikt zwischen zwei Zukünften: einer, die Hoffnung gibt, und einer, die alle Hoffnung nimmt.
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