Alors, ahoi

Unsere erste Woche in Deutschland war eine Art Mini­kultur­schock

An einem Ort ist Hamburg immer heißer als Texas: in der S-Bahn!
An einem Ort ist Hamburg immer heißer als Texas: in der S-Bahn!

Howdy aus Hamburg, liebe Lesende,
ja, Sie lesen richtig: Howdy aus Hamburg – oder wie man hier sagt: Moin! Da war ich schon dabei, bunten monogrammierten Kram für den texanischen Strand zu packen, als meine Einladung zur US-Bürgerschaftszeremonie Ende des Monats endlich eintrudelte. Das war das Zeichen, auf das ich das ganze Jahr gewartet hatte. Ich entschied mich spontan, in den alten Kontinent auszureisen (nach der Zeremonie darf man das nämlich erst mal nicht mehr), und packte auf dunkle Regensachen um.

Ach, da war doch was – der heißeste deutsche Sommer aller Zeiten! Ich legte also ein paar Sommerkleider und Sandalen dazu. Nachbarn meiner Eltern wollten an unserem ersten Morgen in Hamburg von mir stöhnend wissen, ob wir bereit für die hohen Temperaturen seien, sehr wohl ignorierend, in welcher Höllenhitze wir eigentlich zu Hause sind. »Über 30 Grad in Hamburg!« Das ist das perfekte Frühlings- und Herbstwetter in Texas; allerdings ohne den großzügig-hanseatischen Wind. Wir fuhren an die eiskalte Ostsee statt an den pisswarmen Golf und kriegten dort nicht einmal Farbe. Ich brauchte lange, um das fanatisch-amerikanische LSF-Einschmieren zu adaptieren – nun kann ich es nicht mehr lassen. Und am nächsten Tag war die Hitze schon wieder vorbei, und ich ärgerte mich, nicht genug Strickjacken eingepackt zu haben.

Talke talks

News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.

Aber an einem Ort ist Hamburg immer heißer als Texas: in der S-Bahn! Dort fehlt eine Anlage, die in den USA so omnipräsent ist wie Walmart und purifiziertes Wasser, in Deutschland aber noch nicht erfunden scheint oder als zu teuer gilt, was im Grunde dasselbe ist. Das Klima! Die Bahn war nicht nur randvoll und superstickig, als wir sie nach einer routinemäßigen Innenstadtbesichtigung betraten, sondern sie blieb aus (wie immer) »ungeklärten Umständen« erst einmal zehn Minuten einfach stehen. Meine Tochter, die sonst eher nicht bekannt ist für Mäßigung, innere Ruhe oder Selbstbeherrschung, wurde ganz still, der Schock saß wohl tief. Vielleicht war das sogar ihr erstes Trauma, auf jeden Fall empfand sie das Erlebte wohl als sehr skibidi.

Überhaupt ist unsere erste Woche in Deutschland eine Art Minikulturschock gewesen. Meine Tochter hat seit dem letzten Besuch, als sie erst vier Jahre alt war, das meiste vergessen; ich kann meine Gedächtnislücken vielleicht schon aufs fortschreitende Altern zurückführen. Jedenfalls erschien es uns doch äußerst befremdlich, dass Servietten in Deutschland zu einem exotischen Gut avanciert sind, wo sie einem in Amerika förmlich hinterhergeworfen werden wie Dollarscheine in alten Rappervideos.

Papier und Plastik sind in Texas noch unerschöpfliche Ressourcen. Dass wir Flaschen nicht einfach wegwerfen, hatte ich meiner Tochter schon im Voraus erklärt, aber sie schrie trotzdem verwundert: »Ist das Recycling oder was?«, als ihr Großvater ihre Limoflasche vom Vortag zum nächsten Ausflug mit Apfelschorle befüllte. Ich griff aus Versehen im Lindt-Laden zu einer Pralinenschachtel mit Schleife. »Die Schleife ist Geschenkverpackung und kostet einen Euro, ist das okay?«, fragte der Verkäufer. »Digger, das ist kein Geschenk, das Ding kill ich in der Bahn, und seit wann kostet so ’ne Billoschleife ’nen Euro?«, wollte ich sagen, bat aber stattdessen um eine andere Schachtel.

Auch hielt ich mich einst für sehr offen und entlarvte nun meine Prüderie, als ich ein Pärchen im Geiste dafür verurteilte, dass es so ungeniert in der Öffentlichkeit herummachte. Nacktheit am Strand ist auch so ein Unding, das ist in Texas nur was für Paraden und sicher nicht zum Bräunen, was ja längst out ist. Im Freien pinkelnde Kleinkinder sowie angetrunkene Männer (gerade war Schlagermove) wirken ebenso befremdlich. Spaziergänger, die niemanden grüßen auch. Mit Bierflaschen draußen rumzulaufen, scheint illegal, ist es aber nicht. Und das Rauchen erst! Ich muss mir ständig in Erinnerung rufen, dass ich das alles mal für völlig normal hielt, damals, bevor ich texanische Vorstadtmutti wurde.

Nach einer Woche ist mein Hirn endlich wieder teutonisiert, und meine Tochter desensibilisiert. Nächste Woche geht es weiter mit der Komfortzonen-Erweiterung: Wir fliegen nach Frankreich.

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