Die Lügen der Kunst

Das 79. Festival d’Avignon wurde eröffnet, ohne Scheu vor großen Gefühlen und sperrigen Werken

Geburt der Performance aus dem Ritual: »NÔT« von Marlene Monteiro Freitas
Geburt der Performance aus dem Ritual: »NÔT« von Marlene Monteiro Freitas

Mediterrane Temperaturen kennt man mittlerweile auch in Deutschland. Von extremer Hitze sprechen die Meteorologen, auch von Dürre. Die ein paar Jahrzehnte alten Prognosen der Klimaforscher sind nun unsere Gegenwart. Den Südfranzosen ist allerdings deutlich anzumerken, dass sie einen gewissen Vorsprung hatten bei ihren Überlegungen, wie man einen mehr als nur erträglichen Umgang mit heißen Sommern pflegt. Tagsüber, aber ganz besonders zur Mittagszeit, überlässt man in Avignon die charmanten, autofreien Straßen und Gassen in der Innenstadt den Touristen, derer es in der Festivalsaison so einige gibt, und zieht sich zurück in kühlere Innenräume.

Erst wenn die Sonne etwas tiefer steht, wirkt die Stadt dann von Menschen übervoll. Gut gelaunt und entspannt kann man sich im und mit dem Getümmel bewegen. Zu einem kontinuierlichen Rauschen fügen sich die Stimmen zusammen. Wie Marktschreier preisen freie Theaterkünstler an, was sie am Abend zum Besten geben: vor allem Unterhaltung mit und ohne politischen Anspruch, in Auseinandersetzung mit Klassikern oder ganz nach eigenem Textbuch. Das ist das Off-Programm, das sich hier als Kontrapunkt zu dem anspruchsvollen Theaterangebot des Festivals etabliert hat. Aberhunderte Plakate geben Auskunft von der Vielfalt der Darbietungen.

Am vergangenen Samstagabend setzt sich der Menschenstrom, der das Zentrum eingenommen hat, gezielt in Richtung des Place du Palais in Bewegung, vorbei an einem alten Pferdekarussell und an einem umjubelten Jonglagekünstler, vorbei auch an den zahlreichen sehr gut besuchten Restaurants, die die französische Küche auf sehr angenehme Weise mit der italienischen versöhnen.

Das gemeinsame Ziel ist der Papstpalast, der an die lange zurückliegende kirchengeschichtliche Bedeutung der Provence erinnert. In dessen Innenhof wird, wie jedes Jahr, das Festival d’Avignon, das zahlreiche weitere Spielstätten kennt, eröffnet. Die kapverdische Choreografin Marlene Monteiro Freitas hat mit »NÔT« eine, sehr kurz gesagt, höchst eigenwillige Inszenierung vorgelegt.

Die Arbeit ist, so ist dem Programmzettel zu entnehmen, inspiriert von der Geschichtensammlung »Tausendundeine Nacht«. Aber hier erwarten das Publikum kein exotisierender Blick auf den Orient und auch keine tanzenden Märchenonkel. Freitas bedient sich der Rahmenhandlung der Vorlage: König Schahriyar, in seinem Vertrauen erschüttert, in seiner Männlichkeit gekränkt, heiratet seine Frauen nur für eine Nacht. Am nächsten Morgen bringt er sie um. Scheherazade entzieht sich dieses Kreislaufs der Gewalt, erzählt ihrem Gatten Abend für Abend eine Geschichte und weiß genau, an welcher Stelle sie eine Pause einzulegen hat.

Das Ritualhafte, die Wiederholung und ihre Abweichung, festgefügte Muster und der Ausbruch daraus sind es, die die Choreografin interessieren. In einem überaus energetischen Abend lässt sie ein achtköpfiges Ensemble Geburt und Leben, Krankheit und Tod feiern. Für diese soghafte Performance treffen Welten aufeinander. Unheimliche Masken verdecken die Gesichter, elegante Choreografien wechseln sich mit artifiziellen Bewegungen ab, Popmusik trifft Mahler, treibendes Trommeln folgt auf Strawinsky, ein etwas fäkaler (und damit infantiler) Humor macht anmutigen Bildern Platz.

Und wenn dann zum großen Finale Nick Caves Klassiker »The Mercy Seat« überlaut gegeben wird, in dem gleichermaßen Gottes Gnadenstuhl und der elektrische Stuhl besungen werden, ist klar, dass wir es hier mit einer anderen Form der Dialektik zu haben. Wird der Tod in dieser Arbeit beschworen, um ihn fernzuhalten oder anzurufen? »And I’m not afraid to die«, singt Cave (»Ich habe keine Angst zu sterben«). So schön und klug lügt nur die Kunst. Und Marlene Monteiro Freitas zählt zu den aufregendsten künstlerischen Entdeckungen, die derzeit zu machen sind.

Das Premierenpublikum hat für diesen eineinhalbstündigen Theaterabend weniger als einen bloßen Anstandsapplaus übrig. Die Widerstände, die diese sperrige, teils auch unzugängliche Inszenierung hervorruft, sind nicht zu übersehen. Ebenso wenig der Umstand, dass die Kraft, die hinter dieser Arbeit steckt, niemanden kalt lässt, im Guten oder Schlechten.

Für einen deutschen, zumal einen Berliner, Zuschauer ist Freitas’ »NÔT« auch deshalb aufschlussreich, weil Matthias Lilienthal, der designierte Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, angekündigt hat, nicht nur die Skandalchoreografin Florentina Holzinger, sondern auch Freitas zum Teil der künstlerischen Leitung zu machen. Hatte man in der Hauptstadt bereits häufig – wenngleich die Eintrittskarten umkämpft sind – die Gelegenheit, die Holzinger’schen Nackt-Nummern mit feministischem Impetus zu betrachten, ist Freitas’ Werk bisher nur im Rahmen einiger ausgewählter Festivals zu sehen gewesen. Mit dieser Personalentscheidung jedenfalls hat Lilienthal sicher etwas sehr richtig gemacht.

Während »NÔT« nicht zu geringem Teil rätselhaft (aber dabei nicht weniger anziehend) wirkt, hat Thomas Ostermeier in der Opéra Grand eine Inszenierung ohne jedes Geheimnis vorgelegt. Mit »Die Wildente« kehrt der künstlerische Leiter der Berliner Schaubühne und regelmäßige Gast in Avignon zurück zu Norwegens Nationalschriftsteller Henrik Ibsen. 2012 hatte er mit »Ein Volksfeind« einen beachtlichen Erfolg, erst auf dem Festival, dann in Berlin, bald auf Gastspiel in der halben Welt.

In »Die Wildente«, die auch die kommende Saison an der Schaubühne eröffnen soll, nimmt Ostermeier Ibsen wieder beim Wort und übersetzt ihn in die Gegenwart. Die großen Fragen des Dramas überdauern: Ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar? Oder muss die Lüge über die schwere Realität hinweghelfen? Und hält überhaupt das eine oder das andere so etwas wie Glück für uns bereit?

Ostermeier spitzt den Familienkonflikt und den Kampf der konkurrierenden Weltanschauungen zu. Aber die Inszenierung gerät dabei konventionell bis bieder. Und die Klischeefalle schnappt zu und hält das Bühnengeschehen fest umschlossen, wenn der gefallene Hjalmar Ekdal mit langen ungepflegten Haaren in Unterwäsche auftritt, zum Frühstück nach dem Bier greift und seine Tochter anschreit. Soziale Gegensätze gehören auf der Bühne dargestellt. Aber auf diese Weise?

Im Steinbruch im nahegelegenen Boulbon, der vielleicht eindrucksvollsten Freilichtbühne Europas, hat die Tanzikone Anne Teresa De Keersmaeker ihre neue Produktion präsentiert. »Brel« ist eine Hommage an den verehrten Chansonnier Jacques Brel, für die De Keersmaeker mit dem jungen Tänzer und Choreografen Solal Marotte zusammengearbeitet hat. Hier suchen zwei Generationen, die einige Jahrzehnte Lebenszeit trennen, nach dem Verbindenden. In der Musik von Brel, die hier pointenreich vertanzt wird, finden De Keersmaeker, der man das von ihr weit hinter sich gelassene Ballett und das avantgardistische Tanztheater der 80er Jahre noch anmerkt, und Marotte, der vom Breakdance kommt, zusammen. Das Publikum feiert diesen überaus (belgo-)französischen Abend und singt mit: von »Le Diable« bis »Le bon Dieu«.

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Tiago Rodrigues, seit 2023 Leiter des Festival d’Avignon, trumpft nach dem Eröffnungswochenende mit der Premiere von »La distance« in der intimen Spielstätte L’Autre Scène auf. Als Autor und Regisseur ist ihm ein Kammerspiel geglückt, von dem man nicht wusste, dass es in dieser Art überhaupt noch geschrieben wird. Im apokalyptischen Jahr 2077 kommunizieren Vater und Tochter via Sprachnachrichten miteinander. Er ist Arzt, zurückgeblieben auf der von katastrophischer Hitze und politischen Auseinandersetzungen zum Untergang verdammten Erde. Sie ist eine junge Wissenschaftlerin, gerade angekommen auf dem Mars, bei aller Angst auch hoffnungsvoll und bereit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und, wortwörtlich, zu vergessen.

Der Familienkonflikt wird mit allen Mitteln der Schauspielkunst ausgetragen. Und wie nebenbei werden dabei auch politische Fragen von Tragweite verhandelt: Gibt es eine Zukunft ohne Vergangenheit? Gibt es Gerechtigkeit nur für wenige? Ist, wie Brecht sagte, »alles Neue besser als alles Alte«?

Die darstellende Kunst ist nicht am Ende. In Avignon sind wieder, auf deutschen Bühnen geradezu verpönt, die großen Gefühle zu sehen, die weiter ins Publikum getragen werden. Rodrigues wartet nicht mit ästhetischem Einerlei auf, sondern lässt künstlerische Welten aufeinanderprallen. Erfreulich, dass jemand den Mut findet, auch sperrigen Arbeiten die Szene zu überlassen, die Geburt der Performance aus dem Geist des Rituals zu feiern, wie es Marlene Monteiro Freitas tut, und das von Zeitgeistjägern abgeschriebene und belächelte Erzähltheater zu neuem Leben zu erwecken wie in »La distance«.

Die 79. Ausgabe des Festival d’Avignon findet noch bis zum 26. Juli statt.
www.festival-avignon.com

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