Der Ort, wo niemand fragt

Sozialarbeiterinnen bieten Straßenprostituierten Hilfe / Neues Gesetz droht deren Lage noch zu verschlimmern

  • Kersten Artus
  • Lesedauer: 6 Min.

»Lass nicht mit dir handeln: Deine Arbeit hat ihren Preis - und den ist sie auch wert. Zu billige Angebote machen die Preise für alle kaputt.«* Ratschläge wie diese geben Sonja und Madlen oft an die Frauen weiter, die an ihren Bus kommen. Sie stehen in einer Broschüre der Diakonie Hamburg und der Deutschen AIDS-Hilfe. Sonja und Madlen geben den Frauen Gleitgel und Kondome, manchmal lassen diese ihr benutztes Spritzbesteck hier. »Wir kommen immer zum Schichtwechsel«, sagt Madlen. »Wenn die Tagsüberfrauen und die Nachtarbeiterinnen die Plätze wechseln.« 20 bis 40 Frauen erreichen Sonja und Madlen montags zwischen 18 und 21 Uhr. Sie sind Sozialarbeiterinnen, ihre Klientinnen sind Straßenprostituierte.

Seit sechs Jahren steht der blaue Transporter mit den getönten Scheiben immer zur selben Zeit am selben Tag am Steindamm im Hamburger Stadtteil St. Georg, direkt am Hauptbahnhof. »Parati« (spanisch: für dich) heißt das Straßensozialprojekt mit insgesamt sieben multiprofessionellen und -kulturellen Mitarbeiterinnen: fünf Muttersprachlerinnen, acht Sprachen, Krankenschwestern, Sozialpädagoginnen. »Manche Frauen wollen nur einen Kaffee trinken, andere haben Schmerzen oder benötigen eine Impfung«, sagt Madlen. »Wir führen auch Ausstiegsgespräche«, sagt Sonja. Fragen dazu kämen vornehmlich von älteren Prostituierten. Sonja und Madlen stellen immer wieder fest, wie schlecht die Frauen informiert sind, wie wenig sie selbst über Schwangerschaft und Verhütung wissen. Finanziert wird das mobile Angebot vom »Mac Aids Fund«. Er gehört zum US-amerikanischen Kosmetikkonzern Estée Lauder. 67 500 Euro fließen pro Jahr nach Hamburg.

Täglich Ablehnung und Feindseligkeiten

Straßenprostituierte erfahren selten solche Fürsorge und Aufmerksamkeit. Ordnungshüter verfolgen sie, die Stadtplanung möchte sie verdrängen. Die meisten sind hoch verschuldet, haben keine Melde- und Postadresse. Osteuropäerinnen und Afrikanerinnen sind in der Regel bewusst für diese Arbeit nach Deutschland gekommen. Sie fühlen sich nicht als Opfer, sondern als Familienernährerinnen - und sind stolz darauf, eigenes Geld zu verdienen. »Viele sind stolz darauf, dass sie mit ihrem Einkommen ihre Kinder in Bulgarien, Rumänien, Spanien oder Ghana zur Schule schicken können. Deswegen wollen die meisten auch weiter in der Sexarbeit tätig sein«, sagt Sonja. Daher nützen Verbote und Verordnungen nicht viel - Bußgeldern und ständiger Angst vor der Polizei zum Trotz. Was an Strafen gezahlt werden muss, erfordert eine noch höhere Präsenz auf der Straße. Nicht selten schieben die Frauen Doppelschichten, die sie nicht ohne Drogenkonsum aushalten. Ständig müssen sie Angst haben vor Feindseligkeiten und Ablehnung.

Katarzyna ist heute das erste Mal in den Bus gestiegen. Bislang habe sie sich geschämt, mit den Parati-Frauen zu sprechen, offenbart die mollige, blonde Frau mit polnischem Akzent. Aber jetzt benötige sie dringend Hilfe. Die Mittdreißigerin erzählt, sie habe sich mit Hepatitis C infiziert, sei oft müde, erschöpft. Das Arbeiten falle ihr schwer. »Jeden Tag bin ich am Steindamm, immer an der selben Stelle«, sagt sie und zeigt auf einen Poller, der den Fußgängerbereich vom Parkplatz trennt. »Dreizehn Jahre lang hatte ich keinen Kontakt zu meiner Familie. Erst seit kurzem wieder, seit mich ein Freund meines Bruders hier gefunden hat.« Es sei nicht leicht, die Eltern, die auch in Hamburg leben, nach so langer Zeit zu treffen. Katarzyna wirkt erleichtert, ihre Geschichte erzählen zu können.

Mitte des Jahres soll das jüngst von der Großen Koalition beschlossene Prostituiertenschutzgesetz in Kraft treten. SPD-Ministerin Manuela Schwesig will damit menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Sexarbeiterinnen schaffen. Registrierung und Gesundheitsberatung werden Pflicht. Das erste Mal, so heißt es aus dem Bundesfamilienministerium, würden rechtliche Rahmenbedingungen für die legale Prostitution geschaffen. Gefährliche Erscheinungsformen der Prostitution würden verdrängt, mit dem Gesetz die Grundrechte von Prostituierten auf sexuelle Selbstbestimmung, persönliche Freiheit, körperliche Unversehrtheit und auf Gleichbehandlung gestärkt.

Nur Anonymität schafft das nötige Vertrauen

Sonja und Madlen schütteln den Kopf: »Jeder Zwang führt die Frauen, die auf der Straße arbeiten, in die Illegalität. Wer in Hamburg nicht gemeldet ist, geht auch nicht zum Amt, um sich untersuchen zu lassen.« Das bedeute, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Infektionen nicht behandelt werden, erheblich steigt. Der Bochumer Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft, Norbert Brockmeyer, sieht das ähnlich. Er warnt ausdrücklich vor Restriktionen für Sexarbeiterinnen, befürchtet, dass Zwangsmaßnahmen dramatische Zuwächse an Infektionen bedeuten können.

»Nimm immer ein Kondom, am Besten auch beim Blasen. Kommt Sperma in den Mund, spuck es aus. Spül den Mund aus, auf keinen Fall Zähne putzen. Ob jemand HIV hat, kannst du nicht sehen. Jeder deiner Sexpartner oder Kunden könnte es haben. Wegen HIV musst du nicht aus Deutschland ausreisen.«* Eine Studie des Robert-Koch-Institutes hat zwar ergeben, dass Prostituierte keine höhere Gefahr laufen, sich mit dem HI-Virus zu infizieren. Die Zahlen steigen jedoch, wenn Frauen erst seit kurzem der Prostitution nachgehen, Drogen nehmen oder Sex ohne Kondom praktizieren.

»Wir sind sehr darauf bedacht, den Frauen einen Ort zu bieten, wo niemand nach Namen, Geschichten oder sonstigen Informationen fragt. Wir treten an mit dem Versprechen, anonym zu arbeiten und keine Informationen weiterzugeben«, sagt Sonja. Sie fragen Katarzyna nicht weiter aus und hoffen, dass sie wiederkommt.

Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz: Länderbehörden überlegen

Die Bundesländer müssen die Bestimmungen des neuen Gesetzes umsetzen. Doch mehr als erste Überlegungen gibt es bislang nicht. Auf eine Anfrage der CDU-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft antwortete die Sozialbehörde: »Mit Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens beginnt ... der fachliche Diskurs über die Umsetzung des Gesetzes sowie die Etablierung der dazu notwendigen Strukturen.« Der komplexe Abstimmungs- und Beteiligungsprozess werde noch dauern. »Die Planungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen.«

Aus der Gesundheitsbehörde heißt es, ein Gesamtkonzept sei in Arbeit. Es »sollen sowohl Prostituierte mit guter sozialer Integration, also auch solche in besonders prekären Lebenssituationen erreicht werden. Das Beratungsangebot sollte vertraulich und weitestgehend anonym sein ...« Bis heute wurden die Sozialarbeiterinnen von »Parati« nicht in die Überlegungen der Behörden einbezogen.

Das Prostituiertenschutzgesetz war schon heftig umstritten, bevor es verabschiedet wurde. Experten warnten eindringlich, dass es die Absicht verfehlen werde, Menschenhandel zu bekämpfen und prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen zu beseitigen. Eine Hauptursache für die schlechten Lebensbedingungen der Straßenprostituierten blieb außerhalb der Debatten: der illegale Drogenhandel. »Würde sich die politische Position bezüglich einer Legalisierung von Drogen ändern und zu einer staatlich kontrollierten Abgabe und Preisgestaltung führen, könnte der Kauf von Drogen über andere Wege finanziert werden, da die immensen Profitspannen des illegalen Drogenhandels nicht mehr durch die Endverbraucher verdient werden müssten«, sagt Kathrin Schrader. Die Professorin für soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences promovierte zum Thema Drogenprostitution. Konsumenten von Drogen müssten sich nach einer Legalisierung nicht mehr aus wirtschaftlicher Not auch noch zu den schlechtesten Bedingungen prostituieren, lautet ihr Argument.

Die Zitate stammen aus der Broschüre »Sex für Geld? Aber sicher! Tipps für Frauen, die anschaffen gehen«, herausgegeben 2015 von der Diakonie Hamburg und der Deutschen AIDS-Hilfe.

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