Riexinger: Soziale Einwanderungsgesellschaft statt Obergrenze

Statt Flüchtlinge zu bekämpfen muss in Bildung und Wohnen investiert werden. Ein Gastbeitrag des LINKE-Chefs zur Debatte um Sahra Wagenknecht

  • Bernd Riexinger
  • Lesedauer: 9 Min.

Die Diskussion um die Äußerungen von Sahra Wagenknecht zur Mitverantwortung Angela Merkels für den Terroranschlag in Berlin hat hohe Wellen geschlagen. Dabei gerät schnell in Vergessenheit, dass die LINKE im Bundestag als einzige Fraktion stets geschlossen gegen Verschärfungen des Asylrechts gestimmt hat. Jeder Debatte über Obergrenzen haben wir eine klare Absage erteilt. Unsere Devise lautet: Fluchtursachen bekämpfen statt Geflüchtete. Die Mitverantwortung Merkels für den Terror liegt nicht in der Flüchtlingspolitik, sondern in ihrer Unterstützung für Waffenexporte und dem gescheiterten »Krieg gegen den Terror«. Ein wichtiger Schritt für mehr Sicherheit ist daher das Verbot von Waffenexporten und ein Ende der deutschen Beteiligung an dem »Krieg gegen den Terror«, der in Wahrheit nur immer Terrorismus erzeugt.

Lesen Sie zu dieser Debatte auch die Beiträge »Eine LINKE mit Sahra Wagenknecht kann ich nicht wählen« (Jan Ole Arps) und »Raus aus dem politischen Exil: mit Sahra Wagenknecht« (Michael Prütz).

Angela Merkel wird in diesen Tagen in europäischen Medien als letzte Hoffnung für Weltoffenheit und Demokratie aufgebaut. Gleichzeitig war 2016 das tödlichste Jahr in der europäischen Flüchtlingspolitik: Über 5000 geflüchtete Menschen kamen im Mittelmeer ums Leben. Die Politik der Bundesregierung und der EU läuft darauf hinaus, statt Fluchtursachen die Geflüchteten zu bekämpfen. Die Grenze, an der Geflüchtete abgewehrt werden sollen, wird immer weiter weg von unserer Haustür geschoben. Etwa durch den Deal mit dem türkischen Diktator Recep Tayyip Erdogan oder durch Abkommen mit afrikanischen Staaten. Diese Politik hat nicht nur tödliche Folgen und unterläuft die Genfer Flüchtlingskonvention, sie ist auch zum Scheitern verurteilt.

Geschlossene Grenzen sind keine Lösung

Der französische Migrationsforscher François Gemenne bringt es auf den Punkt: »Offene oder geschlossene Grenzen haben überhaupt keinen Einfluss darauf, ob Leute sich auf den Weg machen oder nicht. Der Unterschied ist allerdings, ob sie lebend ankommen oder tot. Geschlossene Grenzen sind die Grundlage des Schleuser-Business.« Etwa 90 Prozent der über 60 Millionen Geflüchteten weltweit kommen gar nicht erst in die reichen Länder der Welt. Sie bleiben Vertriebene im eigenen Land oder werden von den Nachbarstaaten aufgenommen. Es ist eine unrealistische Vorstellung, dass die EU ein paar Millionen gibt, Schulen baut und die ärmeren Länder dann alle Geflüchteten menschenwürdig bei sich aufnehmen. Durch die mit deutschen Waffenexporten angeheizten Kriege, durch zunehmende Armut und Massenarbeitslosigkeit, durch Umweltzerstörung und autoritäre Regime werden immer mehr Menschen zur Flucht gezwungen.

Der globale Kapitalismus zerstört die Lebensgrundlagen von Hunderten Millionen Menschen und zwingt sie zur Flucht. Nicht der Einsatz für die Aufnahme und gute Integration von Geflüchteten ist weltfremd, sondern eine Politik, die darauf setzt, dass wir die Probleme einer ungerechten Weltordnung von unseren Wohnzimmern dauerhaft fernhalten können. Diese Wahrheit immer wieder auszusprechen, ist eine der Aufgaben der LINKEN.

Von Besorgten, Sexisten und Sicherheit

Aber damit sind die mit der Aufnahme von Geflüchteten verbundenen Fragen noch nicht beantwortet. Viele Menschen machen sich Sorgen. Manche davon zu Unrecht: Denn Flüchtlinge sind im Durchschnitt nicht krimineller als die deutsche Bevölkerung. Niemand begibt sich auf gefährliche Fluchtrouten, nur um hier Sozialhilfe zu beziehen. Gewalt gegen Frauen ist kein Problem von MigrantInnen, sondern von männlichem Sexismus.

Auch der islamistische Terrorismus lässt sich nicht bekämpfen, indem man Flüchtlinge unter einen Generalverdacht stellt. Im Gegenteil: Gute Aufnahme und Lebensbedingungen für Geflüchtete und eine gelebte Willkommenskultur würden die Gefahr reaktionärer Radikalisierung hierzulande verringern. Natürlich müssen Polizei und Justiz konsequenter gegen islamistische Gewalttäter vorgehen. Entscheidend ist es aber, Präventionsarbeit zu leisten und progressive MigrantInnenorganisationen stärker zu fördern.

Wenn es um die Befürwortung sozialer Ungleichheit, um Sexismus und Demokratiefeindlichkeit geht, haben übrigens deutsche RechtspopulistInnen, fundamentalistische ChristInnen und IslamistInnen viel mehr gemeinsam als auf den ersten Blick erkennbar. Wir sollten in dieser gesellschaftlichen Situation mit linken MigrantInnen und Flüchtlingsinintiativen gemeinsam Position beziehen gegen den gescheiterten »Krieg gegen den Terror«, der nur zu mehr Terrorismus führt, gegen Rassismus, Anti-Feminismus und gegen reaktionären Islamismus.

Die Angst vor Verschlechterung

Aber die Herausforderungen des Kampfes um eine sozial gerechte Einwanderungsgesellschaft reichen weiter. Wenn Millionen Menschen erwerbslos sind oder zu Niedriglöhnen arbeiten, fragen sich viele Menschen: Warum wird nicht zuerst an uns gedacht? Viele hart arbeitende Menschen haben Angst vor dem sozialen Abstieg. Die Politik der Großen Koalition führt dazu, dass die Konkurrenz um Arbeitsplätze und bezahlbare Wohnungen zunimmt. Wenn aus Unternehmensverbänden und CDU Rufe nach Ausnahmen beim Mindestlohn kommen, schürt das die Angst vor weiterem Lohndumping. Das Kaputtsparen der öffentlichen Infrastruktur schafft ständig neuen Mangel und Stress in Schulen, Kitas und Krankenhäusern, im öffentlichen Nahverkehr und in der Verwaltung. In ärmeren Stadtteilen und Regionen werden die Menschen seit Jahrzehnten von der Politik vergessen.

Unter diesen Bedingungen haben viele Menschen die Befürchtung, dass sich die Situation durch mehr Einwanderung verschlechtert. Deutschland hat kein Flüchtlingsproblem, sondern ein Problem mit der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit. Die Große Koalition entlässt die Multimillionäre und reichen Erben aus der Verantwortung und bürdet die Lasten den hart arbeitenden Beschäftigten auf. Die Antwort von rechts ist es, Rassismus zu schüren, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten: gegen Erwerbslose und Geflüchtete.

Rassismus, der in dieser Gesellschaft seit Jahren gehegt und gepflegt wird, auch von Medien, rechten und konservativen Parteien, verstellt den Blick auf die Probleme und ihre Ursachen. Als Linke müssen wir deutlicher machen, dass Einwanderung im Kapitalismus fast immer dazu genutzt wurde, um Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Und um die Menschen, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängig sind, zu spalten. Die EinwanderInnen stehen dabei fast immer am unteren Ende: Sie haben die schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt, geringere Löhne und schlechtere Chancen in einem ungerechten und diskriminierenden Bildungssystem. Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte spaltet und zerstört Solidarität im Alltag.

Die linke Antwort: Solidarität und soziale Einwanderungsgesellschaft

Die Antwort von links darauf lautet: Solidarität. Nicht nur als individuelle Tugend, sondern als gemeinsames Handeln, mit dem wir die Strukturen der Gesellschaft gestalten wollen. Solidarität zeigen etwa die Menschen, die sich in Willkommensinitiativen und gegen Rassismus engagieren. Die gelebte Willkommenskultur trägt viel zu Integration und einem solidarischen Zusammenleben bei. Solidarität bedeutet auch, gemeinsam für eine sozial gerechte Einwanderungsgesellschaft zu streiten: Soziale Sicherheit für alle statt Konkurrenz um Arbeitsplätze, Wohnungen und Bildung. MigrantInnen müssen dieselben Chancen haben, sich ein gutes Leben aufzubauen, die Sprache zu lernen, gute Arbeit zu finden, das kulturelle Zusammenleben mitzugestalten. Integration braucht gleiche Rechte und gleichen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung.

DIE LINKE hat Vorschläge gemacht für eine soziale Offensive für alle, die hier leben und zu uns kommen:

  • Gute Arbeit für alle: Die Löhne müssen deutlich steigen, so dass sie für ein gutes Leben reichen. Der Mindestlohn muss auf zwölf Euro erhöht werden, darunter droht Armut im Alter. Wir wollen Arbeit gerechter verteilen, so dass alle Arbeit finden und niemand in Dauerstress und Existenzangst leben muss. Durch ein Sofortprogramm sollen 300.000 sozial abgesicherte Arbeitsplätze für Langzeiterwerbslose und Geflüchtete geschaffen werden.
  • Wir wollen einen Neustart für öffentlichen, sozialen und genossenschaftlichen Wohnungsbau: mindestens 250.000 neue Sozialwohnungen pro Jahr. Die Unterbringung von Asylsuchenden in Not- und Massenunterkünften ist unmenschlich und teuer. Leerstehende Wohnungen müssen obligatorisch vermietet werden.
  • Gute Bildung für alle. Das dreigliedrige Schulsystem, das Kinder aus Arbeiter- und MigrantInnenfamilien benachteiligt, muss abgeschafft werden. Es braucht Milliarden-Investitionen in gute Kitas und Schulen mit Ganztagesbetreuung – gerade auch in ärmeren Stadtteilen und ländlichen Regionen. Es müssen dringend mehr ErzieherInnen, LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen eingestellt werden. Lehrkräfte müssen entsprechend ihrer Aufgabe und Qualifikation besser bezahlt werden. MigrantInnen und Geflüchtete müssen frühzeitig Zugang zu Integrations- und Sprachkursen erhalten, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Niedrigschwellige Angebote, insbesondere für Migrantinnen und geflüchtete Frauen, wollen wir ausbauen.
  • Solidarische Gesundheitsversicherung für alle: Es darf keine Leistungseinschränkungen für Geflüchtete geben. Besondere Bedarfe aufgrund von Kriegs- und Fluchterlebnissen müssen berücksichtigt werden. Die psychotherapeutische Versorgung muss gewährleistet sein.
  • Demokratie in den Kommunen stärken: Der Bund muss mindestens 50 Prozent der Kosten für die Aufnahme, Unterbringung (inklusive der Gesundheitsversorgung) und Integration von Geflüchteten übernehmen. Zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich gegen Rassismus, Antisemitismus und für mehr Demokratie engagieren, Flüchtlingsräte, migrantische Verbände, selbstverwaltete Beratungsangebote und Selbstorganisation von Flüchtlingen, wollen wir stärken.

Und die Finanzierung?

Damit wäre ein Anfang gemacht auf dem Weg zu einer sozial gerechten Einwanderungsgesellschaft, in der alle gute Arbeit finden und besser leben. Eine fünfprozentige Millionärssteuer würde gut 80 Milliarden Euro in den öffentlichen Haushalt spülen. Damit ließen sich nicht nur die Flüchtlinge menschenwürdig aufnehmen und gut integrieren, sondern – für alle – die Wohnungsnot beseitigen und durch Investitionen in Bildung, Pflege, Gesundheitsversorgung und den ökologischen Umbau der Gesellschaft Hunderttausende Arbeitsplätze schaffen. Aus einer funktionierenden Daseinsvorsorge erwächst ein anderes Lebensgefühl. Sie ist die soziale Grundlage für eine wirkliche Demokratie. Wenn das Leben nicht von permanenter Unsicherheit geprägt ist, finden auch mehr Menschen die Bereitschaft, Gesellschaft gemeinsam mit neuen Nachbarn zu gestalten.

Der Aufschwung des Rechtspopulismus in Europa verhindert derzeit eine gerechtere Aufteilung bei der Flüchtlingsaufnahme in der EU. Aber zwischen Nord-, Süd- und Osteuropa bestehen auch nicht dieselben Voraussetzungen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Diese werden durch die neoliberale Wirtschaftsordnung in der EU, die vor allem den deutschen Exportkonzernen nutzt, und die unsoziale Kürzungspolitik untergraben. Nur verbunden mit dem Einsatz für eine andere Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa, die Arbeitsplätze in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung, erneuerbare Energien und Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft schafft, kann der Kampf um eine menschenwürdige EU-Flüchtlingspolitik gewonnen werden. Europäische Solidarität in der Flüchtlingsfrage heißt auch: Die Reichen und Vermögenden, die in der Krise immer reicher geworden sind, müssen die Kosten tragen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal