Chinas jährliche Völkerwanderung

Alle wollen bei ihrer Familie sein zu Beginn des neuen Jahres - dem »Jahr des Hahns«

  • Werner Birnstiel
  • Lesedauer: 3 Min.

Zum Chinesischen Neujahr, auch Frühlingsfest genannt, rollt alljährlich die weltweit größte Reisewelle durch China. Ziel sind Familientreffen zum Start ins Neue Jahr, das nach dem Mondkalender am Sonnabend begann. Es ist das »Jahr des (Feuer)-Hahns«. Mit ihm beginnt der Zwölfjahreszyklus des Tierkreises.

Der Legende nach steht er am Anfang, weil er in klassischen Regionen Ost- und Nordwestchinas als eines der ersten Tiere domestiziert wurde und morgens durch sein Krähen die Menschen wissen ließ, wie spät es etwa war. Ein früher »Sohn des Himmels«, Kaiser Chen Tang, legte vor 3700 Jahren fest, dass er zu den Tieren gehöre, die für die Menschen besonders wichtig sind.

Im Jahr des Hahns Geborene, so heißt es unter anderem, weichen auch einem »harten Leben« nicht aus. Tatsächlich bedarf es einiger Härte, um zum Frühlingsfest zu seiner Familie zu gelangen. In diesem Jahr bewegte sich - so wurde es festgelegt - ab dem 13. Januar der Strom der Reisenden aus den großen Städten und Wirtschaftsregionen in die kleinen Städte und vor allem ländlichen Gebiete. Zurück geht es dann nach dem offiziellen Ende der Feiertage am 2. Februar bis zum 21. Februar.

Die logistischen Herausforderungen haben chinesische Ausmaße. So wird mit 2,98 Milliarden Reisebewegungen gerechnet, per Bahn, Bus, Pkw, Motorrad, Schiff und Flugzeug, das wären rund 65,6 Millionen Reisen mehr als 2016. Es wurden 356 Millionen Eisenbahntickets verkauft, höchst begehrt sind die für das Netz der Hochgeschwindigkeitszüge. Dieses umfasst seit Ende 2015 insgesamt 19 000 Streckenkilometer und wird bis 2020 auf 30 000 Kilometer ausgebaut. Die Reisezeiten verkürzen sich damit um ein Mehrfaches. Folglich widerspiegelt der Kampf um Fahrkarten alle Schattierungen marktwirtschaftlichen Konkurrenzgebarens.

Das »Jahr des Hahns« wird von Entwicklungen mit ebenfalls chinesischer Dimension bestimmt werden. So wird die Bevölkerung bis Ende dieses Jahres um weitere 7,39 Millionen Menschen auf 1,389 Milliarden anwachsen, eine Zunahme um 20 264 Menschen pro Tag. Erst ab 2030 schwächt sich dieser Zuwachs ab, zugleich nimmt die Lebenserwartung der Bevölkerung weiter zu (zurzeit: Frauen 77,3 Jahre; Männer 74,2). Das sind Herausforderungen, die die Debatten auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im Herbst maßgeblich mitbestimmen werden.

Innenpolitisch geht es um die Intensivierung der Reformpolitik bei einem Wirtschaftswachstum von etwa 6,5 Prozent. Dieses belief sich 2016 auf 6,7 Prozent (2015: 6,9). Der absolute Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts betrug damit 2016 im Vergleich zum Vorjahr 749,13 Milliarden Dollar. Das im Westen beklagte »nicht mehr zweistellige Wirt- schaftswachstum« entpuppt sich also bei genauerem Hinsehen als enorme Zunahme an Jahreswirtschaftsleistung und wird gezielt auf ein nachhaltigeres Wachstum des Binnenmarktes ausgerichtet. Zu einem zentralen Anliegen erklärt die KPCh dabei, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern.

Seit 2013 sei es gelungen, jährlich zehn Millionen Menschen aus der Armut zu holen - durch staatliche Sozialleistungen, Vorzugskredite für einen Start zum eigenen oder kollektiven Wirtschaften, durch gezielte Hilfe bei der Arbeitsbeschaffung. Bis 2020 sollen fast 80 Millionen Arme staatliche Sozialleistungen erhalten und sich so einem »bescheidenen Wohlstand« annähern.

Vergleichbares soll verstärkt der Landbevölkerung in geografisch und klimatisch benachteiligten Regionen zugute kommen. Dazu gehören der Ausbau des Bildungs- und des Gesundheitswesens und die Schaffung von Wohnraum für sozial Schwache. Der Kampf gegen Korruption und Verschwendung, die Senkung von Arbeitslosigkeit und der Umweltschutz stehen im Parteitagsjahr auf allen Handlungslisten ganz oben. In der altchinesischen Mythologie wird dem Hahn übrigens ein ausgeprägtes Organisationstalent zugesprochen, er symbolisiere eine Zeit edler Ziele.

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