Selenskyjs Dilemma

Eine Fortsetzung des Kriegs verschärft die Lage in der Ukraine. Gleichzeitig ist ein Friedensschluss ohne Zugeständnisse an Russland nicht in Sicht

  • Felix Jaitner
  • Lesedauer: 7 Min.
Die ukrainische Bevölkerung leidet unter dem Krieg, die Wirtschaft liegt am Boden. Wer die Kosten für den Wiederaufbau des zerstörten Landes übernimmt, ist unklar.
Die ukrainische Bevölkerung leidet unter dem Krieg, die Wirtschaft liegt am Boden. Wer die Kosten für den Wiederaufbau des zerstörten Landes übernimmt, ist unklar.

Kommt er oder kommt er nicht? In den vergangenen Tagen beherrschte die Frage die Medien, ob der russische Präsident Wladimir Putin persönlich an den Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges in Istanbul teilnimmt. Am Mittwochabend teilte der Kreml dann per Pressemitteilung mit, dass weder Putin noch Außenminister Sergej Lawrow anreisen werden. Stattdessen wird die russische Delegation von Wladimir Medinskij angeführt. Der langjährige Kulturminister und Präsidentenberater gilt als ein national-konservativer Vordenker in der Regierung und war bereits 2022 an den Verhandlungen beteiligt.

Die Kritiker im Westen sehen sich durch die Absage Putins in ihrer Meinung bestätigt, die russische Regierung sei nicht an ernsthaften Gesprächen interessiert. Die Bundesregierung und die mit ihr verbündeten europäischen Länder hoffen vielleicht sogar, ein Scheitern der Verhandlungsdiplomatie von US-Präsident Donald Trump könnte dazu führen, dass die transatlantischen Beziehungen wieder enger werden. Dabei ist es wert, darüber nachzudenken, warum eigentlich Verhandlungen geführt werden und welche Erfolgsaussichten sie haben.

Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine stehen in Deutschland diplomatische Initiativen für Friedensverhandlungen unter dem Verdacht der Komplizenschaft mit Wladimir Putin. Im vergangenen Jahr kritisierte SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius seinen Parteigenossen Rolf Mützenich für den Vorschlag, den Konflikt in der Ukraine einzufrieren, mit den Worten, ein solcher Schritt »würde am Ende nur Putin helfen«. Thorsten Frei, Bundeskanzleramtschef unter Friedrich Merz, behauptete damals sogar, er sehe »nirgends einen Ansatz, wie man zu Friedensverhandlungen kommen kann«.

Die Bundesregierung ist außen vor

Ausgerechnet der US-amerikanische Krawallpräsident Donald Trump belehrt die deutsche Regierung eines Besseren. Seit seinem Amtsantritt führen die USA sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine diplomatische Gespräche über ein Ende des über drei Jahre währenden Krieges. Am vergangenen Wochenende erklärte Putin plötzlich, Russland sei zu Friedensverhandlungen ohne Vorbedingungen bereit. Daraufhin kündigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Teilnahme an, gab jedoch zu Protokoll, nur mit Putin persönlich zu verhandeln.

Und die Bundesregierung? Ist wieder außen vor. Nachdem man sich einer diplomatischen Lösung des Krieges lange hartnäckig verweigert hat, wollte Merz in der vergangenen Woche die Initiative zurückgewinnen. Gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem britischen Premier Keir Starmer und Polens Ministerpräsident Donald Tusk reiste er nach Kiew, um der ukrainischen Regierung ihre Unterstützung zu versichern. Als Vorbedingung für direkte Gespräche zwischen Russland und der Ukraine forderten sie einen 30-tägigen Waffenstillstand und setzten der russischen Regierung ein Ultimatum. Sollte sie dies nicht akzeptieren, werde man die Sanktionen verschärfen und die Waffenhilfe für die Ukraine aufstocken. »Russland wird sich bewegen müssen«, tönte CDU-Außenminister Johann Wadephul. Doch die russische Regierung ließ das EU-Ultimatum verstreichen.

Russlands Ziele

Wadephul übersieht, dass die russische Seite Verhandlungen nie abgelehnt hat. Allerdings sieht sie den Krieg in der Ukraine als Teil eines umfassenderen Konfliktes um Einfluss in der entstehenden multipolaren Welt. Die russischen Kriegsziele sind deshalb auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und gehen über direkte Forderungen an die Ukraine hinaus. Medial im Vordergrund steht die Forderung nach einer Anerkennung der seit 2014 erzielten Territorialgewinne in der Ukraine. Diese sind für Russland von großer Bedeutung, da sie eine Landverbindung zur Krim ermöglichen, die vorher nur durch die Brücke von Kertsch mit russischem Staatsgebiet verbunden war. Zudem sind die besetzten ostukrainischen Gebiete reich an seltenen Erden, die für den klimaneutralen Umbau der Industrie eine wichtige Rolle spielen.

Ein weiteres Ziel Russlands besteht darin, eine dauerhafte Truppenpräsenz der Nato in der Ukraine zu verhindern und die militärischen Kapazitäten des Landes durch festgelegte Truppengrößen und Rüstungsbeschränkungen zu begrenzen. Zusammen mit der Forderung einer verfassungsrechtlich garantierten Neutralität läuft dies auf eine Beschränkung der Souveränität der Ukraine hinaus, die auf den Status eines politischen und geografischen Pufferstaat zwischen der Nato und Russland zurückgestuft wird.

Die Kriegsziele in der Ukraine haben russische Regierungsvertreter wiederholt mit Forderungen nach einer Übereinkunft mit der Nato verknüpft. Der Verzicht auf einen Beitritt der Ukraine zum Militärbündnis soll ein weiteres Heranrücken an die russische Grenze künftig verhindern. Außerdem möchte man Gespräche mit den USA über die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa führen. Dieser zweite Verhandlungsstrang dürfte in den Gesprächen in Istanbul –wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle spielen. Er ist aus russischer Sicht jedoch zentral.

Dennoch scheint es, als bräuchten Trump und die Ukraine einen Verhandlungserfolg dringender als Putin. Der militärische Vormarsch in der Ostukraine erfordert zwar hohe Verluste, geht jedoch kontinuierlich voran. Dank der staatlichen Nachfrage nach Rüstungsgütern brummt die Wirtschaft. Finanzminister Anton Siluanow beziffert den Nachfrageimpuls in den Jahren 2022 bis 2024 auf insgesamt zehn Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes. Das sorgt für hohe Wachstumsraten: 2023 stieg die Wirtschaftsleistung um 3,6 Prozent und im vergangenen Jahr sogar um 4,1 Prozent. Die Rückeroberung der besetzten Territorien im Gebiet Kursk berauben der Ukraine zudem eines wichtigen Druckmittels in den Verhandlungen: die Möglichkeit eines Gebietstausches.

Private Spenden gegen soziale Not

Die Selenskyj-Regierung steht in den Verhandlungen vor dem Dilemma, zum Wohle eines Friedensschlusses den russischen Forderungen nachzugeben oder den Krieg fortzuführen und dadurch die dramatische Situation im Land weiter zu verschärfen. Inzwischen leben 30 Prozent der Bevölkerung in Armut. Unter der systematischen Zerstörung der Energieinfrastruktur durch Raketen- und Drohnenangriffe leiden besonders einkommensschwache Schichten.

In der Ukraine leben inzwischen 30 Prozent der Bevölkerung in Armut.

-

Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden. Einer der wenigen prosperierenden Sektoren ist die Rüstungsindustrie. Die ukrainische Regierung verwendet große Anstrengungen darauf, die Rüstungsproduktion hochzufahren. Eine Folge: Während 52 Prozent der Staatsbudgets militärische Kosten abdecken, sind die Ausgaben für soziale Belange mit 15 Prozent deutlich geringer. Der Großteil der Sozialhilfe erfolgt über internationale Hilfsgelder oder private Spenden. Die Selenskyj-Regierung verschärft die soziale Ungleichheit ihrerseits durch ihre an IWF-Vorgaben orientierte neoliberale Politik. Die stellvertretende Sozialministerin Daryna Marchak verteidigte die Verschärfung des Arbeitsrechts im Sommer 2022 mit den Worten: »Wir müssen fähig sein zu arbeiten, so lange wie wir können.«

Viele halten an einer Rückgabe der Gebiete fest

Seit Anfang 2024 verschärft sich auch die Lage an der Front. Die mit großen Hoffnungen verbundene Gegenoffensive im Sommer und Herbst 2022 drängte die russischen Streitkräfte zwar zurück, wurde aber unter hohen Verlusten erkauft. Seitdem nimmt die Zahl der Deserteure zu, während die Bereitschaft, freiwillig Kriegsdienst zu leisten, deutlich abgenommen hat. Der Staat antwortet auf den Soldatenmangel mit immer härteren Rekrutierungsmethoden, wodurch die Zahl der Dienstfreiwilligen weiter sinkt.

Daher überrascht es wenig, dass in der Ukraine eine Debatte über den Sieg de facto nicht mehr geführt wird. Zwar gibt Selenskyj offiziell die Forderung nach einer vollständigen Rückgabe der besetzten Territorien nicht auf. Doch in der Bevölkerung wird die Fortsetzung des Krieges immer unpopulärer. Da jedoch die Mehrheit nach wie vor an der Gebietsrückgabe festhält, steht Selenskyj unter Druck, in den Verhandlungen Ergebnisse zu präsentieren.

Trotz Trumps Versprechen, den Krieg innerhalb von 24 Stunden beenden zu können, ist ein schneller Friedensschluss unwahrscheinlich. Denn die Forderungen der Kriegsparteien schließen einander aus und lassen wenig Spielraum für Kompromisse. Sollte es zu ernsthaften Friedensverhandlungen kommen, werden sie ein langer Prozess sein.

Unabhängig von dem weiteren Verlauf der Verhandlungen ist bereits absehbar, dass die schwächste Seite im Krieg, die Ukraine, der größte Verlierer ist. Der Angriffskrieg Russlands wird vermutlich keine völkerrechtlichen Folgen haben, vielmehr droht dem Land der Verlust großer Territorien im Osten und Südosten. Darüber hinaus bleibt ungeklärt, wer die Kosten für den Wiederaufbau des zerstörten Landes übernimmt.

Die westlichen Unterstützer tragen eine Mitverantwortung für die dramatische Lage der Ukraine. Erstens haben sie den »Siegesplan« der Selenskyj-Regierung lange Zeit unterstützt, ihr jedoch gleichzeitig die dafür notwendige militärische Unterstützung vorenthalten. Das Rohstoffabkommen mit den USA verdeutlicht, wie schamlos die Schwäche der Ukraine zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil ausgenutzt wird. Von dem viel beschworenen Kampf für Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte bleibt da nicht viel übrig.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -