Frustriert über das lange Warten

Viele Flüchtlinge brauchen psychosoziale Betreuung / Das Angebot ist nicht ausreichend

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 4 Min.

Aboud Al Kalaf wird von der Polizei abgeholt. Er hat sie selbst gerufen. Sie bringt ihn ins Krankenhaus, Psychiatrie. Nach zwei Tagen wird er entlassen. Die Diagnose: leichte depressive Störung. Es sei nicht notwendig, ihn in der Klinik zu behalten, heißt es im Arztbrief. Er bekommt Tabletten.

»Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht denken«, sagt Al Kalaf in seinem Zimmer in einem Flüchtlingsheim im Berliner Westen. Das Zimmer teilt sich der Syrer mit zwei weiteren Männern. Es sei laut, rieche schnell schlecht. Nur dank der Tabletten käme er nachts überhaupt zur Ruhe. »Ich bin nicht verrückt, ich bin nicht dumm, ich bin nicht krank.« Er fühle nur diesen ständigen Druck auf den Kopf, der ihm jegliche Konzentration raube. Warum? »Ich denke ständig an meine Familie.« Seine Frau und seine drei Kinder sind noch in Syrien und warten darauf, dass er sie nachholt. Dafür müsste er nun ihre Reisepässe einreichen. Seit zwei Monaten will er das schon tun.

Drei Klinikaufenthalte hat Al Kalaf hinter sich. Eine Therapie bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten ist schwer zu bekommen. Insgesamt gibt es zu wenige Therapeuten, und erst recht solche, die Arabisch sprechen. Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer schätzt, dass deutschlandweit nur 15 Prozent der Geflüchteten mit Therapiebedarf entsprechend versorgt sind.

Ein Flüchtlingsheim in Berlin hat dafür eine unkonventionelle Lösung gefunden: Die Betreiber haben eine »inoffizielle Psychologenstelle« geschaffen. So nennt es Anna Müller, die dort seit einem Jahr halbtags beschäftigt ist. Sie will weder ihren Namen in der Zeitung lesen noch den ihres Arbeitgebers.

Müller teilt sich die Stelle mit einem Kollegen. Sie bieten Sprechstunden an und gehen selbst auf Bewohner zu. »Alle Gespräche sind reine Krisenintervention«, sagt Müller. Sie hilft denjenigen, die akuten Bedarf haben und stellt erste sogenannte Verdachtsdiagnosen. Müller geht es darum, die Bewohner »gut in der Unterkunft und in der Stadt anzubinden«. Viele, mit denen sie Kontakt hat, sind frustriert über ihre Situation, über das Leben im Heim, das lange Warten auf den Flüchtlingsstatus, eine Wohnung, Arbeit, darüber, die Familie nicht nachholen zu können. Manche liegen den ganzen Tag im Bett. Ihnen fehlt jemand, der ihnen zuhört. »Sie brauchen jemanden, der belastbar ist, bei dem kein Thema vermieden werden muss.« Viele hätten Angst, als »verrückt« abgestempelt zu werden, wenn sie gegenüber Familienmitgliedern oder Mitbewohnern über ihre psychischen Probleme sprechen.

Müller schätzt, dass 70 Prozent der Bewohner von Notunterkünften die Kriterien einer psychischen Störung erfüllen. Manche brächten ihre Probleme bereits mit, und zum Teil hätten sie in ihrer Heimat Medikamente erhalten oder Therapien besucht. Sie haben Ängste, Depressionen, Zwangsstörungen, außerdem Traumafolgestörungen, ausgelöst durch Krieg oder Verfolgung im Heimatland, durch die Flucht oder durch die unsichere Situation im Flüchtlingsheim, die ständige Warteposition. »Viele fühlen sich als Individuum negiert«, sagt Müller. Hinzu komme, dass sie sich zur Passivität gezwungen fühlten und kaum Möglichkeiten sähen, sich unabhängig vom deutschen Staat zu machen. »Wer sich nicht von diesen Erfahrungen erholen kann, bei dem chronifizieren sich die psychischen Probleme«, sagt Müller. Nicht alle bräuchten eine Therapie, sondern Anschluss.

Müller geht mit ihnen spazieren, hört sich ihre Sorgen an, auch ihre Freuden. Sie engagiert Ehrenamtliche, die sie aus dem Heim herausholen, mit ihnen die Stadt anschauen, ihnen helfen, sich im Sportverein anzumelden. Die meisten vermittelt sie außerdem an einen Therapeuten.

Dabei hilft ihr das Netzwerk »Psychosoziale Versorgung von Geflüchteten in Berlin Mitte« des Zentrums für interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie (ZIPP) der Charité und des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). Dessen Ziel ist der Austausch von Mitarbeitern von Flüchtlingsunterkünften, Beratungsstellen und Therapeuten. »Der persönliche Kontakt hilft häufig schneller bei der Vermittlung«, sagt Müller. Auf monatlichen Netzwerktreffen können sich die Teilnehmer über Fragen wie beispielsweise die Nutzung digitaler Medien durch Geflüchtete austauschen. Am 27. April sind Akteure der psychosozialen Betreuung aus ganz Berlin zu einer Netzwerkbörse eingeladen. Dafür werden noch bis zum 10. Februar per Crowdfunding Gelder gesammelt.

Im Flüchtlingsheim, in das Al Kalaf vor wenigen Wochen gewechselt ist, gibt es keine Psychologen, die sich seinem Problem widmen. Er ist dennoch froh über den Umzug: Hier kann er selbst kochen. Für Al Kalaf ist das ein großer Fortschritt. In seinem früheren Heim schmeckte ihm das Kantinenessen nicht. Außerdem fühlt er sich jetzt weniger passiv. Er hat ein Treffen mit einem Übersetzer vereinbart. Der soll die Dokumente seiner Familie ins Deutsche übertragen.

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