Nicht nur Luther, auch Lenin denken

Die deutsche Reichsregierung gewährte freie Fahrt dem exterritorialen Waggon, in dem Lenin und Genossen im April 1917 aus dem Schweizer Exil durch den Schwarzwald über Stuttgart und Saßnitz nach Russland zurückkehrten. Das kaiserliche Deutschland steckte den Revolutionären zudem reichlich Geld zu. Nicht aus Sympathie für deren Vision einer neuen gerechten Gesellschaft, sondern aus weltkriegsstrategischen Erwägungen. Wie viel Reichsmark respektive Rubel nach Petrograd rollten, ist umstritten.

Die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur hat eine halbe Million Euro aus dem Bundeshaushalt für diverse Aktivitäten im hundertsten Jahr nach der russischen Revolution zur Verfügung gestellt bekommen, darunter für neue Online-Präsentationen (kommunismusgeschichte.de und www.dissidenten.eu). Am gestrigen Mittwoch stellte die Stiftung auch ihre neue Plakatausstellung vor: »Der Kommunismus in seinem Zeitalter«, erarbeitet vom Historiker Gerd Koe-nen. Die Dokumentation auf 25 Tafeln ist bereits tausendfach deutschlandweit von verschiedenen Institutionen, darunter Schulen und Rathäuser, bestellt worden und soll auch im Ausland gezeigt werden, wie Ulrich Mähler von der Stiftung informierte. Eine überdimensionierte Variante ist ab sofort im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museum zu sehen. Das DHM lässt im Herbst dann noch eine eigene Ausstellung (»1917 - Revolution. Russland und Europa«) folgen.

Denn nicht nur an Luther, auch an Lenin sei in diesem Jahr zu erinnern, betonte Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung. Sie beklagte das geringe Interesse sowohl in der Forschung wie auch in der Öffentlichkeit für die Geschichte des Kommunismus. Unwissenheit dominiere, weshalb auch »die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft nicht die gebührende Aufmerksamkeit erhalten«. Kaminski sprach von zwei konträren Extremen: »eindimensionale Verdammung und verklärende Revolutionsromantik«. Angesichts des »Zulaufs für linke Populisten und rechte, die sich linker Versatzstücke bedienen«, sei die wissenschaftliche Auseinandersetzung nötiger denn je. Koenen bestätigte, dass noch viel zu tun sei: »Für Historiker ist die unglaubliche Erfolgsstory des Sozialismus wie auch sein Kollaps nach wie vor ein Rätsel.« Der in seiner Jugend dem Kommunistischen Bund Westdeutschland angehörende Bestsellerautor (»Das rote Jahrzehnt«, »Der Russlandkomplex«, »Vesper, Ensslin, Baader«) verwies auf die Vielfalt von Kommunismen.

»Kommunismus - ein blinder Fleck in der Erinnerungskultur?« fragt die heute beginnende dreitägige Konferenz der Bundesstiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Gegensatz zu dieser anmeldungspflichtigen steht die Tagung »Das Echo der Russischen Revolutionen« des Vereins Helle Panke heute (15 bis 21 Uhr, Kopenhagenerstr. 76) allen Interessierten offen; Eintritt fünf Euro.

Die deutsche Regierung war 1917 zunächst zufrieden: »Lenins Eintritt in Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch.« In der Folge indes sollten die deutschen Eliten zu den übelsten Antikommunisten mutieren.

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