»Eine Ruhe wie in Nordkorea«

Im Gespräch: Sergey Lagodinsky, Oppositionsführer der Jüdischen Gemeinde zu Berlin

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Herr Lagodinsky, die Jüdische Gemeinde zu Berlin hat in den vergangenen Jahren immer wieder Negativschlagzeilen gemacht. Interne Querelen, Gerüchte über Mobbing und ein vergiftetes Klima bestimmten das öffentliche Bild. Sie selber sprachen von einem »Zustand der Gesetzlosigkeit, des Nepotismus und Despotismus«. In den letzten Monaten ist es ruhiger um die Gemeinde geworden. Konnten die Probleme gelöst werden?

Aus der Sicht des Gemeindevorstands wahrscheinlich schon. Es ist eine Ruhe, wie es sie vielleicht in Nordkorea oder in bestimmten anderen Regimen gibt, wo alles politisch gesäubert wurde und die politischen und demokratischen Institutionen vollständig ausgehebelt wurden. Wir haben ein Gemeindeparlament, dessen Legitimität nicht bestätigt ist und angezweifelt wird. Dieses Parlament hat den aktuellen Vorstand gewählt. Dieser Vorstand hat uns als Opposition mit seiner Mehrheit keinerlei Funktionen gegeben. Das Parlament hat sowieso keine wichtigen Themen auf der Tagesordnung. Wir durften insbesondere zu Beginn der Legislaturperiode nicht einmal frei Fragen stellen, wenn wir sie nicht im Vorfeld in einem Antrag eingereicht haben. Wir durften auch nicht auf die Korrekturen der Protokolle der letzten Sitzungen hinweisen oder diese verlangen. Uns wurde bloß gesagt, wir könnten unsere Einwände in Form einer E-Mail äußern.

Also: Die Opposition, wenn man sie so nennen möchte - ich persönlich denke nicht, dass wir die Opposition sind, wir sind ganz normale Mitglieder des Parlaments - spielt überhaupt keine Rolle innerhalb der Gemeindehierarchie. Das alles spielt diesem Vorstand in die Hände. Die momentane Ruhe erklärt sich auch dadurch, dass die meisten Gemeindemitglieder, denen Transparenz und ein Mindestmaß an Demokratie wichtig sind, inzwischen verzweifelt aufgegeben haben. Mehr und mehr Menschen ziehen sich zurück und treten aus der Gemeinde aus.

Sie haben dem Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe Wahlmanipulation bei den letzten Gemeinderatswahlen im Winter 2015 vorgeworfen. Eigentlich habe Ihre Wahlliste »Emet« die meisten Stimmen auf sich vereinigen können. Zur Klärung der Vorwürfe wollten Sie den Berliner Senat und den Zentralrat der Juden einschalten. Auch eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft hatten Sie in Erwägung gezogen. Was ist daraus geworden?

Der Zentralrat hat die Enthüllungen mit Interesse verfolgt. Nach dem von uns erhobenen Vorwurf der Wahlmanipulation, nach Zeugen- und Medienberichten ist der Zentralrat hellhörig geworden. Daraufhin hat das hohe jüdische Gremium eine Klärung vom Berliner Gemeindevorstand verlangt. Diese Klärung ist bis heute ausgeblieben. Alle weiteren Bestrebungen von Mitgliedern des Zentralrats, Konsequenzen gegenüber dem Vorstand dieser Gemeinde zu ziehen, sind gescheitert.

Und haben Sie Anzeige gegen Herrn Joffe erstattet?

Die Anzeige liegt vor und beschäftigt derzeit die Berliner Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt.

Sind Sie vom Zentralrat enttäuscht?

Mich enttäuscht, dass wir von der Gesellschaft und von der Politik allein gelassen wurden. Das hat natürlich strukturelle Gründe. Der Fall wirft aus meiner Sicht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Religionsgemeinschaften und dem Staat auf. Insbesondere, wenn es um Religionsgemeinschaften geht, die keinerlei innere Mechanismen haben, um die Verfassungsgarantie des Rechtsweges und der richterlichen Klärung, wenn auch intern, zu ermöglichen.

Halten Sie an Ihrer Einschätzung fest, dass Sie ohne die Wahlmanipulationen heute rechtmäßiger Vorsitzender der Gemeinde wären?

Wenn wir die die Ergebnisse vor dieser ominösen Wahlurne, die wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, als Referenz nehmen, ist der Fall eindeutig: Nach diesen Kalkulationen haben wir mit unserem Wahlbündnis »Emet« eindeutig die meisten Stimmen bekommen. Es geht auch nicht um meine Person. Ganz ehrlich, ich habe auch andere Sachen zu tun. Es geht um die Wähler. Von den Gemeindemitgliedern, die am Wahltag zur Abstimmung gegangen sind, hat eine klare Mehrheit für uns plädiert. Der jetzige Vorstand ist illegitim und ein Betrug am Wähler.

Viele Gemeindemitglieder haben die Grabenkämpfe satt. Sie fordern, dass die Gemeinde sich auf ihre wesentlichen Aufgaben konzentriert: Organisation des religiösen Lebens, Vertretung der jüdischen Community nach außen, der Kampf gegen Antisemitismus in der Gesellschaft. Sehen Sie noch Hoffnung, wie die größte jüdische Gemeinde Deutschlands vor dem Zerfall gerettet werden kann?

Die Berliner Einheitsgemeinde wird dank der Senatsgelder weiter bestehen. Die Gemeinde zerfällt nicht, sie wurde übernommen. Und zwar von einer Clique von Leuten, die sich dieser Gemeinde bedienen, als wäre sie ihr Privatverein. Wenn der Zustand in den nächsten Monaten so bleibt, wie er momentan ist, ist das das Ende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Erfreulicherweise haben wir in Berlin genug alternative Angebote außerhalb der Einheitsgemeinde. Es gibt eine orthodoxe Gemeinde, es gibt die Chabad-Community und viele andere kleinere Gruppierungen. Jüdisches Leben in Berlin wächst und gedeiht nicht wegen, sondern trotz des Gemeindevorstands. Es ist aber schade um die Institution, um das Geld und um die Ressourcen.

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