Erschafft der Geist die Materie?

US-Wissenschaftler beobachtet in einigen Sparten 
der modernen Naturforschung eine Wiederbelebung 
des Geozentrismus

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.

Drei Jahre vor seinem Tod verfasste der Schriftsteller Thomas Mann den Essay »Lob der Vergänglichkeit«. Darin verwahrte er sich dagegen, den Menschen lediglich als Zufallsprodukt der kosmischen Entwicklung anzusehen. »In tiefster Seele hege ich die Vermutung, dass es bei jenem ›Es werde‹, das aus dem Nichts den Kosmos hervorrief, und bei der Zeugung des Lebens aus dem anorganischen Sein auf den Menschen abgesehen war.«

Der Gedanke von der privilegierten Stellung des Menschen im Kosmos findet sich auch in vielen Religionen und wurde lange von der Wissenschaft gestützt. Den Grundstein hierfür legte im zweiten Jahrhundert der griechische Astronom Claudius Ptolemäus. Er stellte die unbewegliche Erde in den Mittelpunkt der Welt und ließ alle anderen Himmelskörper um sie kreisen. Der Augenschein verbürgte den Erfolg dieses geozentrischen Weltbildes, denn demnach geht die Sonne über der Erde täglich auf und unter.

Es dauerte weit über tausend Jahre, ehe Naturforscher wie Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei mit Mut und mathematischem Geschick die Erde als das erkannten, was sie ist: ein Planet, der um die Sonne kreist, die ebenfalls keine Sonderstellung im Kosmos einnimmt. Im Gegenteil. Als einer von über 200 Milliarden Sternen befindet sich die Sonne am Rand unserer Galaxis, rund 27 000 Lichtjahre von deren Zentrum entfernt. Die Galaxis wiederum gehört zur sogenannten Lokalen Gruppe, einem Haufen aus rund 50 Galaxien, der lediglich ein Hundertmillionstel des beobachtbaren Universums ausmacht. Die Lokale Gruppe ist Bestandteil des Virgo-Superhaufens, der selbst 100 bis 200 Galaxienhaufen umfasst. Dennoch bildet er nur einen Ausläufer des Laniakea-Superhaufens, der vermutlich einer noch größeren kosmischen Struktur angehört.

Entstanden ist das unermessliche Universum vor rund 14 Milliarden Jahren im sogenannten Urknall. Dagegen existiert der moderne Mensch erst seit etwa 150 000 Jahren auf der Erde, was einem Sekundenbruchteil der kosmischen Zeit entspricht. Dennoch glaubten unsere Vorfahren, dass die ganze Welt nur um ihretwillen existiere. »Der Homo narcissus war geboren«, schreibt der US-Wissenschaftsautor John Horgan. Erst die für viele niederschmetternde Einsicht, dass der Homo sapiens das Produkt einer langen biologischen Evolution ist, war zugleich die Quelle neuer Erkenntnis. Jenseits von wahnhafter Selbstüberschätzung und unterwürfiger Bescheidenheit bestimmte der Mensch seine Stellung im Kosmos neu und befreite sich aus den Fesseln des dogmatischen und oft religiös unterlegten Anthropozentrismus. Damit hatte unsere Spezies die Bezeichnung Homo sapiens wahrlich verdient, meint Horgan, fügt aber sogleich hinzu, dass es in den letzten Jahren zu einer Art Rückwärtsbewegung im Denken gekommen sei. Angesehene Wissenschaftler und Philosophen verbreiteten Ideen, denen zufolge wieder der menschliche Verstand bzw. das menschliche Bewusstsein den Mittelpunkt der Welt bildeten. Im Wissenschaftsmagazin »Scientific American« bezeichnete Horgan diese Sichtweise unlängst als Neo-Geozentrismus. Historisch betrachtet ist das eine etwas unglückliche Wortwahl. Besser wäre es, die neue Entwicklung als Neo-Anthropozentrismus zu kennzeichnen.

Zwar habe die damit verbundene Art des Denkens immer am Rande der Wissenschaften gelauert, nun jedoch sei sie zu einem allgemeinen Trend geworden, meint Horgan, der im September 2016 an einem von dem Alternativmediziner Deepak Chopra organisierten Treffen »Weise & Wissenschaft« teilgenommen hatte. Statt den Geist an die Funktionstätigkeit des menschlichen Gehirns zu knüpfen, wurde dort die Forderung erhoben, das Bewusstsein als grundlegend für die Konstitution jeglicher Realität anzusehen und ihm die gleiche Bedeutung zuzumessen wie der Materie. Vertreter der Esoterikszene tun das schon lange. Erstaunlich war, dass auch renommierte US-Wissenschaftler, die sich zu diesem Treffen zahlreich eingefunden hatten, einer solchen Forderung zustimmten.

In seinem Aufsatz führt Horgan mehrere wissenschaftliche Modelle an, die dieser Rückwärtsbewegung des Denkens Auftrieb geben. Eines ist die integrierte Informationstheorie, die auf den Neurowissenschaftler Giulio Tononi zurückgeht. Sie besagt: Jedes System aus interagierenden Teilen (selbst ein Proton, das aus drei Quarks besteht) verarbeitet Information und besitzt damit eine Art Bewusstsein. Dass diese neue Version des mystischen Panpsychismus, dem zufolge jeder Form von Materie Bewusstsein innewohnt, selbst bei theoretischen Physikern Anklang findet, vermag Horgan nur mit Verwunderung festzustellen.

Häufig wird sogar behauptet, dass erst die gezielte Beobachtung physikalischer Prozesse die Realität erschaffe. Als Beweis dafür muss gewöhnlich die Quantenmechanik herhalten, die zeigt, dass Messungen im Mikrokosmos zwangsläufig den Zustand der gemessenen Objekte verändern. Doch eine Messung ist etwas anderes als eine Beobachtung. Sie beruht auf einer realen Wechselwirkung zwischen Messobjekt und Messgerät. Das verbürgt ihre Objektivität. Subjektiv sei dieser Prozess nur insofern, als der Mensch die jeweilige Messanordnung konstruiere, schrieb kein Geringerer als Werner Heisenberg. Es könne daher keine Rede davon sein, dass die Quantenmechanik das menschliche Bewusstsein in die atomare Realität integriere.

Schon der Philosoph René Descartes fragte sich im 17. Jahrhundert, ob die Welt nicht nur eine von Dämonen erzeugte Illusion sei. Auch diese Idee erlebt derzeit ihre Wiederauferstehung. So behauptet etwa der schwedische Philosoph Nick Bostrom, dass wir allesamt in einer Computersimulation lebten, die von einer höher entwickelten Zivilisation erzeugt werde. Obwohl diese Idee nicht beweisbar ist, hat sie unter Wissenschaftlern zahlreiche Anhänger gefunden. Horgan hingegen hält Bostroms Simulations-Hypothese für fruchtlos und bezeichnet sie als »Kreationismus in neuer Verpackung«.

Nach wie vor heiß diskutiert wird in der Wissenschaft das Anthropische Prinzip, dem eine erstaunliche Erkenntnis zugrunde liegt: Die fundamentalen Naturkonstanten sind so fein austariert, dass häufig schon bei einer kleinen Veränderung ihrer Werte eine lebensfeindliche Welt entstünde. Während manche die gegebene Konstellation der Naturkonstanten für einen Zufall in der Entwicklung des Universums halten, versuchen andere, sie teleologisch zu deuten. Wie etwa der US-Physiker Freeman Dyson, dem es fast so scheint, als habe das Universum »in gewissem Sinn gewusst, dass wir kommen«. Die Sonderstellung des Menschen wäre damit gerettet, und zwar ohne Eingriff eines übernatürlichen Schöpfers.

Er könne durchaus verstehen, schreibt Horgan, dass sich heute so viele Menschen vom »Neo-Geozentrismus« angezogen fühlten. Denn dieser verkörpere »die Projektion unserer Ängste und Hoffnungen, unsere Sehnsucht nach Bedeutung«. Durch die Verbreitung der sozialen Medien habe sich diese Entwicklung in den letzten Jahren erheblich verstärkt. Mit Blick auf die Geschichte darf man dennoch optimistisch sein, dass Logik und Rationalität in der Wissenschaft die Oberhand behalten werden.

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