Wenn Mörder oder Totschläger ihr Opfer nach der Tat waschen, schminken oder schmücken, ist das für die Ermittler ein wichtiger Hinweis auf den Täter - wie andere bizarre Manipulationen des Tatorts auch.
Kriminalpolizisten sind starken Tobak gewöhnt, doch diesmal bietet sich ihnen am Tatort ein besonders makaberer Anblick: Halb auf dem Bodenparkett, halb auf einem Teppich mit Fransen liegend findet die Polizei eine 67-jährige Tote in Unterwäsche, die bis zum Bauchnabel hinauf zusätzlich mit einer Decke verhüllt ist - so weit, so traurig.
Doch auf der Brust der weißhaarigen Frau sieht es aus, als wolle ein Goldschmied seine neueste Kollektion ausstellen. Herz-, sonnen- und ankerförmige Broschen und Anhänger zieren das weiße Unterhemd der Toten. An den Handgelenken trägt sie mehrere Armbänder und um den Hals einige Perlenketten. Als die Ermittler diese anheben, entdecken sie eine sogenannte Drosselmarke: Die Frau ist mit einem schnurartigen Gegenstand stranguliert worden.
Den mutmaßlichen Täter zu finden, fällt der Kripo nicht schwer: Er hängt gleich nebenan im Türrahmen, hat sich offenbar selber an einer dort eingespannten Stange aufgeknüpft. Offenbar war zuvor sein Versuch, sich in der Badewanne die Pulsadern zu öffnen, fehlgeschlagen. »Tötungsdelikt mit Anschluss-Suizid« heißt so ein Vorfall im Protokoll-Jargon. Der Selbstmörder ist der Ehemann der Toten. Der 68-Jährige hatte seine Operation an der Vorsteherdrüse (Prostata) als Kastration empfunden und war dadurch dem Wahn verfallen.
Was treibt solche Täter an, ihre Opfer quasi noch hübsch zu machen? Kriminalpsychologen kennen dieses Vorgehen unter dem englischen Fachwort »Undoing«, zu Deutsch so viel wie »rückgängig- oder wiedergutmachen«. Der Begriff stammt aus der Fachliteratur der US-Bundespolizei FBI und ist in Deutschland als offiziell klassifiziertes Täterverhalten erst seit den 90er Jahren gebräuchlich.
Schon die FBI-Ermittler stießen auf einen interessanten Zusammenhang: »Undoing-Verhalten ist nur zu beobachten, wenn zwischen Täter und Opfer eine besondere Beziehung oder Nähe bestanden hat - zum Beispiel ein Mutter-Kind-Verhältnis, eine Ehe oder sonstige enge Verbindung«, sagt Axel Petermann, der Leiter der Operativen Fallanalyse (OFA) beim Landeskriminalamt Bremen. Manchmal erkenne das Opfer diese Verbundenheit gar nicht, »doch für den Täter ist sie etwas Besonderes«.
Durch das Waschen zugefügter Wunden, Bedecken oder Schminken des Opfers solle das Geschehen »in gewisser Weise zurückgenommen werden«, erklärt Petermann das bizarr wirkende Vorgehen. »Der Täter versucht, den alten Zustand wieder herbeizuführen.« Im Prinzip verhalte er sich wie eine Mutter oder ein Vater, die ihrem Sprössling im Jähzorn eine Ohrfeige versetzt haben, den Ausrutscher dann furchtbar bedauern und ihren Sohn tröstend umarmen.
So war es vor einigen Jahren auch bei einem Bremer Fall: Eine Frau tötet ihren behinderten Sohn, einen Mann von Mitte dreißig, indem sie ihm Schlaftabletten verabreicht und die Pulsadern aufschneidet. »Der Sohn war Autist, die Mutter fühlte sich total überfordert und hatte einfach die Sorge, dass sie aufgrund ihrer Belastung und ihres Alters die Pflege ihres Sohnes nicht mehr schaffen würde«, erinnert sich Petermann. »Sie befürchtete, er müsse deshalb in ein Pflegeheim, und das wollte sie ihm ersparen.«
Als ihr Sohn gestorben ist, verbindet die Frau die Wunden, faltet seine Hände und legt eine Rose darauf. Dann drapiert sie die Dinge, die sein Liebstes waren, zum Beispiel Stofftiere, um ihn. »Das macht natürlich niemand, der keine Beziehung zum Opfer hat«, sagt Petermann. »Und deshalb ist es am Tatort gar nicht so schwierig zu erkennen, dass es zwischen Täter und Opfer etwas Gemeinsames, eine Verbindung geben muss.«
Die Rechtsmedizinerin Dr. Judith Schröer von der psychiatrischen Uniklinik Hamburg konnte dies belegen. Sie untersuchte 129 aufgeklärte Tötungsdelikte mit sexuellem Hintergrund, die sich in Hamburg zwischen 1974 und 1998 ereignet hatten. Zehnmal - also bei elf Prozent der betrachteten Delikte - lag Undoing vor, und lediglich in einem dieser zehn Fälle gab es »keine längere Vorbeziehung zwischen Täter und Opfer«, berichtete Schröer in der Fachzeitschrift »Kriminalistik«.
Für die Fahndung ist das ein wichtiges Indiz. »Es sind ja nicht die klassischen Mörder, die so vorgehen«, urteilt Axel Petermann. »Und oft sind es keine geplanten Taten, sondern Kurzschluss-Handlungen von Menschen, die nicht weiterwissen.«
Auch Frank K. aus dem thüringischen Heilbad Heiligenstadt im Eichsfeld ist alles andere als ein Killer, wie er im Buche steht. Im Mai 2004 ersticht der damals 35-Jährige seinen jüngsten Sohn und seine Tochter, nachdem er seiner trennungswilligen Ehefrau mehrfach gedroht hat, er werde alle drei gemeinsamen Kinder umbringen, falls sie ihn verlasse. Zunächst habe er nur sich selbst töten wollen, doch dann, angeblich aus Sorge um die Kinder, entscheidet er, diese »mit in den Tod zu nehmen«. Unter Alkohol- und Tabletten-Einfluss bringt er die drei Kleinen zunächst zu Bett. Gegen 22 Uhr tötet er zuerst den 21 Monate alten Hannes mit einem Messerstich in die Brust. Dann hält er die Hand des sterbenden Kindes und legt ihm später ein Stofftier und ein Spielzeugauto in den Arm. Seiner Frau schickt er eine SMS und fordert: »Hannes tot! Hole Lisa und Niklas, damit ihnen nicht noch was passiert!« Doch eine Antwort wartet er nicht ab. Stattdessen sticht der gelernte Schlosser auch seine fünfjährige Tochter in die Brust, wodurch das Kind erwacht und ungläubig fleht: »Papa, ich hab dich doch lieb.« Auch jetzt noch verhält sich der Mann unvorstellbar: Während das Mädchen verblutet, streichelt er sie und bringt sie zweimal zur Toilette. Am nächsten Morgen wäscht er die Leiche sogar, zieht ihr wieder Kleider an und legte sie samt ihrer Puppe neben ihren toten Bruder ins Ehebett. Auch noch das dritte Kind zu töten, den siebenjährigen Niklas, bringt der Vater nicht mehr zustande.
Für die Fallanalytiker der Polizei ist es äußerst hilfreich, wenn sie den Tatort unverändert vorfinden, um die dekorativen Arbeiten des Täters entschlüsseln zu können. Notfalls müssen sie herbeigerufene Ersthelfer wie Ärzte und Sanitäter oder den Entdecker der Leiche fragen, ob und wie diese den Ort verändert haben. Voreilige Schlüsse können in die Irre führen. »Ein und dasselbe Verhalten am Tatort kann aus ganz unterschiedlichen Bedürfnissen des Täters heraus erfolgen«, hat Petermann selber erfahren. So sei zum Beispiel »nicht jedes Abdecken von Opfern gleich schon Undoing«. Manche Täter wollten sich so auch von der Tat distanzieren - etwa, wenn sie und ihr Opfer noch längere Zeit zusammen im selben Raum sind. »Das Opfer soll dann verschwinden, während der Täter vielleicht noch überlegt, ob er Selbstmord begehen oder sich doch lieber stellen soll.«
Ein Fall der Bremer Kripo veranschaulicht das: Ein Mann hat seine Ehefrau getötet und lebt noch ein paar Tage lang neben der Leiche in der heimischen Wohnung. Die Tote liegt zugedeckt im Ehebett, während der Mörder in einem anderen Zimmer schläft. Da könnte man auch an emotionale Wiedergutmachung als Motiv des Zudeckens denken - das ist es hier aber nicht«, befindet Petermann. Der Ehemann hat bloß »nicht ständig an die Tötung seiner Frau erinnert« werden wollen.
Wichtig ist deshalb gründliche Tatort-Arbeit. »Wir müssen zunächst schauen, ob der Täter Bedürfnisse umgesetzt hat - etwas, das ihm wichtig und für die eigentliche Tat, nämlich die Tötung eines Menschen, gar nicht notwendig war«, erläutert Petermann das Vorgehen. Danach sei »zu untersuchen, ob das Opfer sich vielleicht gewehrt hat oder eine Störung von außen hinzugekommen ist, so dass der Täter von seinem ursprünglichen Vorhaben abweichen musste«. Erst wenn alle wichtigen Fakten zum Tatgeschehen vorliegen, können Fallanalytiker versuchen, auf das ursprüngliche Tatmotiv zu schließen - und möglichst auch auf den Täter.
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