Vom Wunderheiler zur Wundertüte

Nach dem 100-Prozent-Parteitag: Der Schulzzug ist jetzt auf einem neuen Streckenabschnitt unterwegs. Die Fahrgeräusche werden wieder unangenehmer

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenn man in Rechnung stellt, dass es in der Politik nicht nur darum geht, was eine Partei will, sondern auch um die Erzählungen darüber, ob sie es schafft und wie das bewertet wird, was da zu schaffen sein könnte, hatte Martin Schulz einen guten Start.

Das war im Januar: Sigmar Gabriel Coup sorgte für jene Irritation in der medialen Wiederspiegelung der SPD, die nötig ist, damit auch mal ein anderer Kommentar geschrieben wird, ein neuer Subtext entsteht, also etwas, das man immer mitliest, auch wenn es gar nicht dasteht.

Seit vielen Jahren lautet diese Geschichte: Die SPD ist eigentlich am Ende, mehr als Juniorpartner in der Großen Koalition ist nicht mehr drin. Die Partei ist ohne Selbstbewusstsein, ohne Rumpf. Mitgliederschwund. Verratene Tradition.

Das klingt seit Ende Januar anders. Klingt. Und natürlich hat das auch etwas mit Martin Schulz zu tun. Der hatte ein paar gute Voraussetzungen mitgebracht - er gehört nicht der Bundesregierung an, er hat eine Aufstiegsgeschichte zu erzählen, die man sozialdemokratisch nennen kann. Dass er mitreißende Reden hält, wird auch immer einmal wieder geschrieben. Wer allerdings den direkten Vergleich mit Gabriel am Sonntag gehört hat, wird darin sicher nicht den größten Vorteil des neuen Spitzenmannes sehen. Richtig ist aber auch: Gabriel hat Ende 2009 eine der besten sozialdemokratischen Reden der vergangenen Jahrzehnte gehalten, aber genutzt hat es nicht einmal den SPD-Umfragewerten.

Nach dem Coup von diesem Januar war dagegen erst einmal ein erfolgreiches Narrativ in die mediale Welt gesetzt: Neuanfang bei der SPD! Die Umfragen zogen an, was den Vorteil hat, dass sich wegen der Berichte über diese Umfragen noch mehr Leute vorstellen können, bei den Sozialdemokraten ihr Kreuz zu machen.

Gewählt werden gern und vor allem Gewinner oder solche, denen es nicht völlig an der Aussicht auf Platz 1 fehlt. Geschichten über Würselen, Geschichten über junge Menschen, die freiwillig in die SPD eintreten, Geschichten über kleine Hypes in sozialen Netzwerken. Daraus entstand etwas mit einer tatsächlichen Wirkung, mit einem Grundton, der in den Köpfen brummt: Jetzt wählen ja wieder alle SPD.

Nun mag dieses »alle« zwar nicht stimmen, aber darauf hinzuweisen störte die Erzählung von der neuen, wieder selbstbewussten SPD anfangs ebenso wenig wie die linke Kritik, es fehle dem Ganzen an praktischer Glaubwürdigkeit. Zumal es Schulz gelang, mit ein paar vagen Andeutungen über die Agenda 2010 eine zweite Spur in der medial-politischen Welt zu legen: »soziale Gerechtigkeit«.

Das Thema ist nicht wirklich neu, schon seit längerem werden die sozialen und ökonomischen Konsequenzen anhaltender Ungleichheit auf eine Weise öffentlich besprochen, die nun in der SPD einen verzögerten Niederschlag fand. Bis hin zu neoklassisch orientierten Wirtschaftswissenschaftlern wird heuer die Meinung vertreten, eine wachsende Spaltung zwischen Unten und Oben sei nicht gut. Das Reden über den Aufstieg der Rechten, in denen der französische Soziologe Didier Eribon »eine Art politische Notwehr der unteren Schichten« zu erkennen glaubt, tat dazu seinen Beitrag.

Nur: Wie lange hält so etwas? Über die Kräfte, von denen der Schulzzug bisher angetrieben wird, hat die SPD nicht die alleinige Kontrolle. Weder kann die Erzählung von der wieder aufgewachten, ja: von der vom Mann aus Würselen wachgeküssten SPD unendlich ausgedehnt oder immer wieder neu erzählt werden, noch bringt eine stärkere Betonung des Themas »Gerechtigkeit« von ganz allein immer mehr Zustimmung.

Die SPD versucht zwar, die öffentliche Wahrnehmung von ihr selbst zu prägen, etwa durch inszenierte Parteitage (die andere Parteien auch machen). Was als Erzählung dann aber wirkmächtig in den Köpfen sich niederschlägt wie ein Sediment aus Schlagzeilen, Meinungsfetzen und Bildern, darüber hat das Willy-Brandt-Haus nicht allzu viel Macht.

Wenn man sich die Kommentar über die Wahl von Schulz und den Parteitag vom Sonntag anschaut, ahnt man, was sich da schnell wieder auswachsen kann: eine Melodie, die bis zur Bundestagswahl noch viel lauter werden wird, ein altes Lied, in dem sozialpolitische Schritte zur Wiederausweitung von Absicherung und Überlegungen zur steuerlichen Umverteilung wieder deutlicher negativ besungen werden. Und auch sowas kommt dann in den Köpfen an.

Man kann das am Beispiel der »Fuldaer Zeitung« zeigen: Da wird die Nase gerümpft darüber, dass Schulz »soziale Geschenke machen« wolle, »die auch Geld kosten«. Da ist von der »Rückkehr zu den sozialen Dogmen der SPD« die Rede. Von einem »wirtschaftlichen Höhenflug des Landes«, dem »sein populistischer Gerechtigkeitsfeldzug« schaden könnte. In der »Rheinischen Post« heißt es unter der Überschrift »Der Menschenfischer« zum Wahlkampf der Sozialdemokraten, »dass jeder hoffen darf, aus der SPD-Wundertüte etwas abzubekommen«. Andere Blätter deuten an, dass sozialpolitische Forderungen nichts Wert sind, solange sie nicht in ein »Gesamtkonzept« eingebaut sind. Vom Ende des Höhenflugs, vom möglichen Absturz ist die Rede.

Bei nicht wenigen, die jetzt so schreiben, mag der Wunsch Vater des Gedankens sein. Richtig ist aber: Nach dem 100-Prozent-Parteitag ist der Schulzzug auf einem neuen Streckenabschnitt unterwegs. Die Fahrtgeräusche dürften wieder unangenehmer werden.

Man wird sehen, was die SPD daraus macht. Es kommt aber auch darauf an, wie nun jene auf die veränderte Lage reagieren, die ein Interesse an »mehr Gerechtigkeit« in der öffentlichen Debatte haben. Und ebenso an einer starken SPD.

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