Tito und Alexander
Mazedonien: schön, arm, hin- und hergerissen. Von Michael Müller
Als Gott die Welt schuf, ging das nicht ganz ohne Pannen ab; die Garantieleistungen für das Missgeschick Mensch ziehen sich bis heute hin. Eine feine Sofortlösung glückte ihm allerdings, als ihm einer der Säcke mit Steinen riss, die er eigentlich vorhatte, überall gleichmäßig zu verteilen. Die Stelle, auf die ein Großteil dieser Steine zur Erde gefallen war, nannte er dann einfach Mazedonien.
So die Mär. Das reale Ergebnis sind 40 Gebirgszüge mit hundert 2000ern auf einem Gebiet von gerade einmal der Größe Mecklenburg-Vorpommerns. Dazwischen 50 größere Seen, zwei jeweils fast das Dreifache der Müritz, etliche Flusstäler, Wasserfälle und Höhlen, natürlich auch Wald.
Da im Binnenland Mazedonien alles so hübsch beieinander liegt, kommt man auch relativ schnell auf sein Dach. Am besten von Tetovo aus, einer Stadt ganz im Nordwesten. In einer guten halben Stunde ist man mit dem Auto bereits im Skigebiet Popova Šapka. Es liegt 1850 Meter hoch in der Šar-Planina und gilt bislang von Oktober bis Mai als schneesicher. In den anderen Monaten gelangt man von dort gut über den Gebirgskamm weiter, beiderseits Gletscherseen, mitunter auch die Wolkendecke unter sich. Gleich westwärts ein schmaler Streifen von Kosovo, zehn Kilometer dahinter beginnt Albanien.
Soran Patschewski, der winters das Wartungsteam der Liftstationen verstärkt und ansonsten freiberuflich als Tourguide unterwegs ist, versichert: »Wer mit einer Schönheit wie der Šar verheiratet ist, der trennt sich nie.« Er deshalb auch nicht. Da weist er auf ein endemisches Pflänzchen wundersamen Names, dort auf einen nur hier zu findenden Karsttyp, lässt von einem Stück Šarskis Sir kosten, dem Schaf-Kuh-Käse der Gegend, erzählt von den Hirten und ihren bulligen Šarplaninać-Hunden.
Schon mit einer Tageswanderung schafft man es bis ganz hoch, also aufs Dach von Mazedonien. Bei 2748 Metern ist dort vor 60 Jahren ein knuffeliger Steinturm eingeweiht worden. Gleichzeitig wurde der Golem-Turčin Vrv in Titov Vrv, also in Tito-Gipfel, umbenannt. Nach diesem legendären Partisanenführer und späteren Präsidenten Jugoslawiens Josip Broz Tito (1892-1980) heißt er noch immer. Sehr zu recht, meint Soran Patschewski, »denn ohne den Alten gäbe es unser Mazedonien gar nicht«.
Tito ist einer der beiden Namen, um die man, so man mit offenen Augen und Ohren gekommen ist, bei einer Mazedonienreise auch nicht herumkommt. Alexander lautet der andere, genauer: Alexander III. von Makedonien, Alexander der Große genannt (356-323 v.u.Z.). Warum diese beiden? Beginnen wir mit dem ersten und damit auch mit der etwas näher liegenden und etwas leichteren Antwort.
Eine Antwort hatte bereits der 48-jährige Gebirgsguide geliefert. Das, was sich heute Republik Mazedonien nennt, gehörte über Jahrtausende zu einem viel größeren südosteuropäischen Siedlungsgebiet gleichen Namens. Mal war alles griechisch, mal römisch, mal osmanisch. Erst mit der Gründung des durch Tito-Partisanen von Nazis und ihren regionalen Vasallen befreiten, neuen, nun sozialistischen Jugoslawiens wurde Mazedonien erstmals in der Geschichte ein Staatsgebilde: als Teilrepublik dieses südslawischen Bundesstaates.
Eine nationale Identität für Mazedonier war übrigens bereits ab 1937 in der Kommunistischen Internationale beschlossene Sache. Und zwar mit allem, was so dazu gehört, also Flagge, Hymne, Mythen und natürlich Sprache. Galt Mazedonisch lange als bulgarischer Dialekt, wurde es unter Tito reformiert und zur eigenen Standard- später auch Staatssprache mit eigenem, sprich kodifiziertem kyrillischen Alphabet ausgebaut. So der Slawist Ivan Lasarow, der an der hauptstädtischen Uni von Skopje lehrt. Und er zitiert in diesem Zusammenhang seinen deutsch-jüdischen Kollegen Franz Rosenzweig (1886-1929): »Sprache ist mehr als Blut.«
Das wusste auch der Nicht-Philologe, dafür aber Vollblutpolitiker Josip Broz Tito, der später einmal neben Nasser, Nehru und Sukarno zu einem der Frontleute der »Nichtpaktgebundenen«, damit sogar zum Weltpolitiker avancieren sollte. Sein Projekt Jugoslawien wurde indes von seinen borniert nationalistischen Erben verspielt, seit 1990 dann, noch vom Westen angefeuert, in tausendfach tödlicher Weise.
Aus diesem Niedergang ist den Mazedoniern ein eigener Staat geblieben, wenn auch nur ein winziger, bis heute nicht so richtig lebensfähiger. Und die eigene Sprache. Dazu passt dann auch diese modische Petitesse: In der zentralen Marschall-Tito-Allee von Tetovo hängt vor einer Boutique ein T-Shirt mit seinem Porträt und der leisen Mahnung »Samo vaš gledam!«. Wörtlich »Nur auf euch blicke ich!«, sinngemäß meint es aber so viel wie »Ausschließlich auf euch schau und zähle ich!«.
Zu schauen gibt’s hier für Tito Formaldemokratie und Formalsouveränität. Die Elite entpuppte sich häufig als Clique aus Fundamentalkapitalisten, korrupten Politikern und dienernden Intellektuellen. Populismus geht vor Pragmatismus, Nationalismus steht in Dauerblüte: Wir alle sind heute zwar klein und arm, doch wir waren einst riesig und mächtig. Unsere Ahnen sind die Mazedonier, die unter Alexander dem Großen ein Weltreich eroberten und beherrschten. Sie sind unsere Vorbilder, von ihnen lernen, heißt siegen lernen.
Diese Devise ist inzwischen im alten Zentrum der Hauptstadt Skopje in Stein gehauen und in Beton gegossen worden: mit riesigen Statuen der vermeintlichen Gründungsväter und -mütter. Da ist ein tonnenschwerer Philipp II., Vater des Großen Alexander, dieser dann mehrfach als Kind und Krieger höchstselbst, seine Mutter Olympia in mehreren Posen, dazu vielerlei mythische Figuren, eine Art Triumphbogen, nächtens natürlich beleuchtet.
Das soll bereits eine hohe zweistellige Euro-Millionensumme gekostet haben. Es ist zwar längst nicht fertig, bietet aber unentwegt Anlass für Ärger. Zum einen im angrenzenden Ausland, also vor allem in Griechenland, aber auch in Kosovo, Albanien und Bulgarien. Dort befinden sich nämlich ebenfalls große Regionen des einstigen mazedonischen Siedlungsgebietes; man bezichtigt Skopje, den Geist Großmazedoniens aus der Flasche zu lassen. Zum anderen fühlt sich die große albanische Minderheit im Staate selbst durch den Protz irritiert und provoziert.
Mazedonien hatte also nicht nur das Gottesglück mit dem geplatzten Sack voll Steinen, sondern krankt auch an dem gottgegebenen Missgeschick Mensch. Zumindest was seine politische Elite angeht. Momentan zeigt sie sich ein Mal mehr unfähig. Nach den Neuwahlen vom letzten Dezember brachte sie bislang keine neue Regierung zustande. Stattdessen spekuliert sie über nochmalige Neuwahlen und versucht, die Straße nationalistisch aufzuputschen. Wir sind Mazedonien!
In der - sieht man von allen Misslichkeiten ab - ansonsten sehenswerten, quirligen Hauptstadt Skopje gibt es natürlich auch Lichtblicke und Ruhepunkte. Nahe des Historienmonumentalismus treffen wir Jasna Awramska in einem ehemaligen Hammam. Längst sind hier Teile des Nationalmuseums eingezogen, auch einen Konzertsaal gibt es. Die junge Pianistin probt für ihren Schostakowitsch-Abend. Die acht Klavierpräludien sind 1918 komponiert, 1926 in ebenfalls schweren Zeiten in Leningrad uraufgeführt worden. Warum Schostakowitsch gerade jetzt in Mazedonien? - »Vor allem, weil es große Musik ist. Die kennt keine Grenzen und Zeiten«, meint die Pianistin. »Doch ebenso passt er als Komponist und Mensch in unser zerrissenes Jetzt.« Viele Mazedonier seien auf der Suche nach ehrlichen Antworten. Schostakowitsch sei eine. Ob sie das zerrissene Jetzt noch näher kommentieren wolle? - »Tak polutschilos«, zitiert sie Schostakowitschs lebenslange Redewendung auf Russisch. Aber nicht resigniert, leicht lächelnd, mit kleinem Augenzwinkern: Es hat sich eben so ergeben.
Infos
Nationales Tourismusportal:
www.visitmacedonia.com.mk
nd-Leserreisen:
Tel: (030) 2978-1620
www.nd-leserreisen.de
Literatur:
»Das Mazedonische Jahrhundert (1893-2001)« von Stefan Troebst, Verlag Oldenburg, München, 1996; »Mazedonien« von Philine von Oppeln, Trescher Verlag, Berlin, 2012; »Skopje, eine Balkan-Hauptstadt«, von Fikret Adanir, in: Hauptstädte Südosteuropas, Wien 1994.
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