Der magische Klang
Am Dienstag wird Gisela von Wysocki mit dem Heinrich-Mann-Preis geehrt - auch für ihr neues Buch »Wiesengrund«
Als Valentin Katajew sein Buch »Das Gras des Vergessens« schrieb, eine autobiografische Spurensuche über den aus der Zeit gefallenen Dichter Iwan Bunin in Zeiten der russischen Revolution, war das wie ein spätes Aufatmen: Heimkehr ins Reich der poetischen Möglichkeiten jenseits der weltanschaulichen Beauftragung. Der alt gewordene Autor holte mit diesem Buch hörbar tief Luft - nur, um sie dann befreit wieder auszuatmen. Ein Glück für ihn - aber auch für seine Leser.
So geht es mir mit Gisela von Wysockis »Wiesengrund«. Welch jugendlich unmittelbares Spiel mit altersweiser Distanz zu sich selbst! Ein Amalgam aus Hitze und Kälte. So merkwürdig tagträumend dieses Buch erscheint, so unzeitgemäß notwendig ist es. Hält man es in den Händen, weiß man, wie sehr man es vermisst hat. Gisela von Wysocki, 1940 in Berlin als Tochter eines Schallplattenprozenten geboren, gibt in »Wiesengrund« ihrem Alter Ego in Salzburg Heimat, macht sich gar zur Tochter eines Astrophysikers. Zu den Sternen? Ja, aber anders, als es der Vater, der sich an die messbaren Dinge im Leben hält, für sie geplant hat. Denn sie folgt schließlich einer anderen Stimme.
Diese Stimme kommt aus dem Äther, schlägt die Nachtstudio-Hörerin nach Mitternacht in den Bann. Da sie kurz vor der Matura steht, hat ihr der Vater streng verboten, so spät noch Radio zu hören. Doch dieses Verbot kann sie nicht befolgen. Also kriecht sie mitsamt Radio unter die Bettdecke, hält den Atem an und lauscht. Was sie da hört vom Dauergast der nächtlichen Sendung, klingt anders als etwa die klugen und sachlichen Darlegungen des Vaters über Geburt und Absterben von Sternen. Man gerät ins Taumeln, aber kann sie nicht festhalten. Nichts kann man festhalten, bis auf den Klang, der nachschwingt. Es ist die Musik des Geistes, die - dieser Stimme lauschend - in ihr erwacht wie das Weltall in Gestalt eines großen Orchesters: sie fortreißend in den Sog einer maßlosen Überforderung. Gisela von Wysockis Schreibkunst gründet im Sinn für die kleinen, die profanen Dinge, ohne die aller Geist nebulös wird. Erstes Selbst-Porträt der Autorin, die beschließt, dieser Stimme zu folgen: »Ich bin ein verschwitztes Schlafanzugbündel.«
Der Mann im Radio ist Theodor Wiesengrund Adorno, den die Nachwelt bündig Adorno nennt, aber in Gisela Wysockis Buch wird er immer nur Wiesengrund heißen. Bei ihm in Frankfurt am Main hat sie tatsächlich promoviert, ihn kennt sie in den Nuancierungen seiner Existenz. Manchmal spricht er von sich selbst - und es ist nur halb ironisch gemeint - als »der Callas«. Dabei klingt seine Stimme nicht einmal besonders effektvoll, manchmal nuschelt er geradezu, macht unmotiviert wirkende Pausen, so dass bereits die Hörerin unter der Bettdecke fürchtete, der Strom im Radioapparat sei ausgefallen, hetzt dann wieder durch seine Gedankenlabyrinthe wie ein Getriebener. Er erklärt die Musik von Schubert, Mozart oder Schönberg, aber am Ende ist es immer die Welt, seine Welt.
Wiesengrund sucht etwas, und bei dieser Energie, die der eher dicklich und gemütlich wirkende Mann zu entwickeln imstande ist, bleibt ihr buchstäblich die Luft weg. Sie versteht nicht, wovon die Rede ist, aber sie beschließt, es verstehen zu wollen. Doch eines hat die Achtzehnjährige bereits sehr gut verstanden: »Die Dinge sind auf dem Sprung.«
Die Reise nach Frankfurt ist zugleich ein Eintreten in den deutschen Geschichtsdiskurs einer neuen Generation linker Theoretiker, die für die große Revolution, die kommen muss, trainieren wollen. Und die junge Frau, gut behütetes Bürgertum mit einer Proust-Ausgabe im Gepäck und einem mit Seide bezogenen Sessel, der noch aus der Mozart-Zeit stammt, spürt ein Unbehagen: »Ich werde dieser Stadt nicht gewachsen sein. Nicht ihren Phantasien über eine noch nie dagewesene Zeit. Die Stadt hat ein Vergrößerungsglas verschluckt. Sie hat sich optisch eingestellt auf hünenhafte Formate. Auf mächtige Brennweiten. Auf Epoche machende Eskalationen. Frankfurt stellt Forderungen.«
Einer der verächtlich im Proust blätternden Kommilitonen wirft sich mitsamt regennassem Parker in den Mozart-Sessel, eine vorsätzliche Schändung, wie sie wohl ahnt. Weg mit dem bürgerlichen Ambiente-Getue! Aber die als ornamentselige Exotin belächelte Studentin sieht sich die jugendlich teutonischen Weltverbesserer sehr genau an, sie blickt mit Wiesengrunds Augen (der die blond-sportiven Typen nicht mag, weil sie den Emigranten an etwas erinnern), möchte den »Zuarbeitern der Revolution« zurufen, der »lange Marsch durch die Institutionen wird kein Ende haben.« Und Frankfurt am Main, in dem einst das Institut für Sozialforschung geboren wurde, ist bald nur noch eine entseelte Bastion der Banken aus Beton und Glas.
Dieses Buch ist - trotz fiktiver Elemente - eine präzise Selbstbeschreibung, man könnte altmodisch von einem Bildungsroman sprechen, wäre da nicht jenes magische Zentrum, und das heißt Wiesengrund. Also ist es auch Weltaufgangsgeschichte, ein Bericht vorsichtiger Liebe, in die sich Befremden mischt, und die darüber das genaue Beobachten nie vergisst. Die Erzählerin erweist sich immer auch als Essayistin, die den Versuch unternimmt, das Provisorische in eine gedankliche und sprachliche Form zu bringen, die Bestand hat. Eine paradoxe Form. Oder wie Gisela Wysocki schreibt: »Wäre das Leben ein Buch, würde ich mich für das Geschehen zwischen den Zeilen entscheiden.«
Ihr erzählender und nachdenkender Essay sucht nach der größtmöglichen Genauigkeit im Bereich jener ungenauen Dinge, die das Leben ausmachen. Etwas ist es selbst und zugleich sein Gegenteil, so weiß die an Theodor W. Adornos Dialektik geschulte Studentin. Auch diesen Zustand des Ich vermag sie auf berückende Weise auszudrücken: »Mir haftet insgesamt der Geruch des Irrtümlichen an; des Verspäteten und Entbehrlichen. Ich bin eine Wackelkandidatin.«
Aber dieses Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein (aus jeder Zeit), macht stark im Wissen um die eigene Schwachheit. Große, bedeutungsschwere Worte haben sich dann ebenso schnell erledigt wie die wortflinken Einreden der Ideologen, die zum »Mitmachen« und »Dabeisein« einladen, nein, im Namen von irgendetwas nötigen. Dem an der Musik geschulten Ohr entgeht nicht, was hier echt und was unecht ist. Fazit: »Mit Hegels Weltsicht kann man mich jagen.« Und über den doch vergötterten Wiesengrund Adorno, heißt es mit kaltem Mut: »Er scheint sich mit den einfachsten Dingen nicht auszukennen.« Aber zum Glück gibt es die ihm selbst verborgen bleibenden Details, wie jenen »aberwitzigen Hut«, in dem sich die zerrissene Existenz eines Emigranten (in Westdeutschland lange ein Synonym für Vaterlandsverräter!) spiegelt: »Nur ein von sehr weither Gekommener zieht mit einem so sonderbaren Gebilde herum. Überall Dellen, Ausbuchtungen, kleine Risse. Wer sich einen solchen Hut auf den Kopf setzt, hat mit Zeitsprüngen zu tun. Mit dem Wechsel der Epochen, mit zurückgelassenen und wiedergefundenen Kontinenten.« Stilfragen sind Gisela von Wysockis Bewusstsein immer die eigentlichen Fragen, jenseits des Heideggerschen »Jargons der Eigentlichkeit«, an dem sich bereits Adorno abarbeitete. Immer geht es dabei um die Musik, den Rhythmus. Wie klingt Wahrheit?
Man muss die Menschen studieren, wie man sich selbst studiert. Mit einem gewissen exaltierten Übermut. Diesem eine eigene Sprache zu finden, mit Worten unerwartete Bedeutungsbrücken zu bauen, das macht Gisela Wysockis Schreiben so eindringlich, so präzise zwischen Bedeutungsebenen oszillierend. Schreiben, so weiß sie, lohnt es sich eigentlich immer nur über die unaussprechlichen Dinge, über die Zwölftontechnik oder Wiesengrunds Hut.
Diese Buch verabschiedet also viel an falschen Gewissheiten. Wysocki traut sich in das Ungewisse. So weitet sich das autobiographisch gebrochene Wiesengrund-Adorno-Porträt zu dem einer Epoche. Der Aufbruch einer politisierten Nachkriegsgeneration-West war reich an Illusionen, die alle nach und nach starben. Bleibt davon nichts? Doch! Ein auf seltsame Weise eindringlicher ästhetischer Schein, von den Handelnden nie gewollt und nun im Nachhinein als einziger die ausgebliebenen Höhenflugversuche bezeugend.
Wenn die Autorin auffällig oft den Konjunktiv wählt, der Gewissheiten in Fragen zurückverwandelt, dann ist damit auch jenes Maß an Utopie bezeichnet, das sie - darin eine echte Nachfolgerin Adornos - gerade noch für erlaubt hält: eine Leerstelle. Ein guter Nicht-Ort für Gedanken!
Gisela von Wysocki: Wiesengrund. Suhrkamp, 264 S., geb., 22 €.
Der Heinrich-Mann-Preis für Essayistik wird von der Akademie der Künste verliehen. Gisela von Wysocki nimmt ihn am 28. März im Akademiegebäude am Potsdamer Platz in Berlin entgegen. Unser Autor Gunnar Decker war als Vorjahrespreisträger Mitglied der Jury.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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