MTV: Die Apparate werden abgeschaltet

Music Television (MTV) sendet ab 2026 keine Musikvideos mehr – ein Nachruf

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.
Heute würde das Video zu Michael Jacksons »Thriller« wahrscheinlich als Miniserie auf Netflix durchgehen.
Heute würde das Video zu Michael Jacksons »Thriller« wahrscheinlich als Miniserie auf Netflix durchgehen.

Nein, MTV war kein Pionier. Schon gar nicht in den Niederlanden. Dort gab es bereits in den 70er Jahren mit »Avro’s Toppop« und »Tros Top 50« zwei Chartshows, die jede Woche reichlich Musikvideos zeigten. Für ein Kind, das bis dato nur die Mitklatsch-Sendungen »ZDF-Hitparade« und »Disco« kannte, tat sich hier eine neue, aufregende Welt auf. Endlich konnte man Musik nicht nur hören, sondern auch sehen.

Das eröffnete ungeahnte Möglichkeiten. Man brauchte kein Englisch zu können, um zu verstehen, dass es in »Dreadlock Holiday« von 10cc um einen Albtraumurlaub auf Jamaika ging, der dann doch in einem Happy End mündete. Und weil viele Holländer diesen musikalisch untermalten Kurzfilm mochten, schaffte er es dort auf Platz 1, während er im videofreien Westdeutschland lediglich Platz 11 erreichte.

Umso mehr überrascht es, dass MTV erst 1981 an den Start ging, und das auch zunächst nur in den USA. Erst 1987 wurde ein europäischer Ableger gegründet. Damit änderte sich auch hierzulande alles. Vor allem das Freizeitverhalten. Bis dato war Musik eine Mangelware. Man besaß einige Lieblingsalben, die teuer genug gewesen waren, und raubkopierte mittels Kassettenrekorder eifrig die Hits, die im Radio liefen. Aber es war immer zu wenig. Erst durch MTV wurde Musik zum Überflussprodukt.

Nach einem Discobesuch schaltete man MTV ein und sah die Clips, zu denen man Stunden zuvor getanzt hatte. Zähe Sonntage vergingen dank MTV schneller. Und wenn man sich mit Freunden zu Hause traf, lief nebenher MTV. Mittlerweile reichten die Englischkenntnisse, um die Moderatoren halbwegs zu verstehen. Bald waren uns Namen wie Steve Blame, Ray Cokes, Kristiane Backer, Rebecca de Ruvo und Marijne van der Vlugt so vertraut wie die Interpreten, die sie ansagten. Ja, mit Paul King hatte MTV sogar einen richtigen Popstar in seinen Reihen – na ja, zumindest hatte er in den 80ern mit »Love and Pride« mal einen Hit gehabt.

Die besten Videos
  • Queen: Bohemian Rhapsody
  • Michael Jackson: Thriller (14-Minuten-Version)
  • a-ha: Take on me
  • Genesis: Land of Confusion
  • Peter Gabriel: Sledgehammer
  • Madonna: Bad Girl (Regie: David Fincher)

Und die Musik? Madonnas Aufstieg zur Ikone wäre ohne MTV eine Ochsentour geworden. Erst die Videos boten ihr die Möglichkeit, dem Publikum ihr gerade aktuelles Ich vorzuführen. Das ließ sich die Plattenfirma einiges kosten. Rund 13 Millionen Dollar (nach heutiger Kaufkraft) flossen in den von David Fincher (»Sieben«, »Fight Club«) produzierten Clip zu »Express Yourself«. Und Michael Jacksons Video zu »Scream« würde heuer fast 15 Millionen Dollar kosten. Es war gut angelegtes Geld. In Zeiten vor Napster und Spotify war der Handel mit CDs Garant für absurde Margen. Ein in Großserie gepresster »Silberling« (welch ein Euphemismus für ein Plastikprodukt!) kostete 20 Pfennig, verkauft wurde das Album für 30 Mark.

Aber auch MTV profitierte von den Videos. Während die klassischen Fernsehsender ein Heidengeld für Spielfilmrechte, Samstagabendshows und Auslandskorrespondenten ausgaben, bekam der Nischenkanal MTV die Inhalte frei Haus geliefert. Denn die Musikindustrie hatte ein Interesse daran, dass ihre Videos häufig liefen. Die Zauberformel hieß Heavy Rotation.

Der Independent-Song »Smells Like Teen Spirit« von Nirvana wäre nie zum Mainstream-Großereignis geworden, hätte ihn MTV nicht über Wochen hinweg rauf und runter gespielt. Auch Duran Duran, Huey Lewis & The News und Guns N’ Roses gelang dort der Durchbruch. Sogar etablierte Künstler wie Peter Gabriel nutzten den Sender, um mit aufmerksamkeitsstarken Clips (»Sledgehammer«) noch einmal richtig abzuräumen. Und wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die dröge Bluesrock-Kombo ZZ Top dank ihrer Videos zur Kultband werden würde?

Ja, MTV selbst wurde zum Event. Mit der Konzertreihe »MTV Unplugged« schuf man Anfang der 90er ein eigenes Format, das nicht nur dem Image förderlich war, sondern auch der Kasse. Betriebswirtschaftlich betrachtet handelte es sich um eine Win-win-Situation. Ein Musiker wie Eric Clapton, dem die 80er nicht gut bekommen waren, erlebte noch einmal einen Karriereschub, während MTV an den Lizenzgebühren für das dazugehörige »Unplugged«-Album und die Single »Tears in Heaven« kräftig mitverdiente.

Doch Erfolg zieht seit jeher Nachahmer an. Als Viva Ende 1993 an den Start ging, waren die goldenen Tage für MTV in Deutschland vorbei. Der neue Sender setzte auf junge, unverbrauchte Gesichter, die schnell zu »Bravo«-Idolen wurden. Viele sind längst vergessen. Was macht eigentlich Nilz Bokelberg? Und Mola Adebisi? Für andere – wie Heike Makatsch und Stefan Raab – wurde Viva zum Karriereturbo.

MTV musste reagieren – und schoss sich selbst ins Knie, indem man MTV Europe 1995 zum Bezahlsender machte. Scharenweise flüchteten Teenies und Twens daraufhin in die Arme von Viva. Was MTV nicht bedacht hatte: Niemand schließt ein Abo für einen Sender ab, der meist nur nebenher läuft.

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Zwei Jahre später korrigierte man die Entscheidung und gründete MTV Germany sowie 17 weitere nationale Ableger in Europa. Es war die letzte Blüte des Senders. Sie verhalf Christian Ulmen und Nora Tschirner zur Popularität. Auch Bands wie Wir sind Helden wurden erst durch MTV bekannt. Da war der Abstieg des Senders bereits in vollem Gang. Mit dem Boom der Musiktauschbörsen brachen ab der Jahrtausendwende die CD-Verkaufszahlen ein. Es rechnete sich für die Industrie nicht mehr, teure Clips zu produzieren.

Als die Mutter des Senders, der US-Medienkonzern Viacom, im Jahr 2004 Viva übernahm, war dies ein Pyrrhussieg für MTV. Tatsächlich befanden sich nun zwei Verlierer unterm gleichen Dach. Es folgte ein langes Wachkoma, in dem MTV mehrmals sein Geschäftsmodell (erst frei empfangbar, dann kostenpflichtig, schließlich wieder frei empfangbar) und auch seine inhaltliche Ausrichtung änderte. Man verlor den Überblick, ob gerade Reality-TV oder Musikvideos angesagt waren. Es war aber auch egal.

Die Zuschauerquoten bewegten sich in den letzten 20 Jahren auf die untere Promillegrenze zu. Mittlerweile schalten nur noch 0,1 Prozent MTV ein. Die Entscheidung, ab dem neuen Jahr ganz auf Clips zu verzichten, ist daher konsequent. Wer Musikvideos sehen will, braucht kein MTV mehr – Youtube reicht völlig.

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