Mitbestimmtes Europa

Viele Unternehmen arbeiten in der EU grenzüberschreitend - Chance oder Risiko für die Beteiligungsrechte der Arbeiter?

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Mitbestimmung in Deutschland wird nicht von jedem in Europa geschätzt. Immer wieder gab es politische und rechtliche Vorstöße, die auf die »paritätische Mitbestimmung« zielen. Die jüngste Attacke findet vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) statt. Ein Kleinaktionär klagt gegen TUI. Das weltgrößte Reiseunternehmen aus Hannover ist in rund einhundert Ländern aktiv. Von den rund 70 000 Beschäftigten arbeitet nur jeder siebte in Deutschland. Dennoch folgt die Zusammensetzung des Konzernaufsichtrates dem deutschen Mitbestimmungsrecht: Demnach wird eine Hälfte von den Beschäftigten in Deutschland gewählt. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di spielt im Aufsichtsrat eine wichtige Rolle.

Die Luxemburger Richter könnten das Ende eines, aus Sicht der Gewerkschaften, Erfolgsmodels einläuten. Diese Form der Mitbestimmung ist, wie sie in Deutschland seit 1976 eingespielt wurde, bestens akzeptiert, auch bei vielen Unternehmern und Managern. Schließlich motiviert sie Beschäftigte, für »ihre« Firma ordentlich zu schaffen. »Wir Arbeitnehmer können stolz auf die Errungenschaft des vereinten Europas sein«, meint Norbert Kluge, Mitbestimmungsexperte in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Auch wenn in den Römischen Verträgen vor allem wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund standen, sei Europa doch damals sozialer Fortschritt und Arbeitnehmerbeteiligung in die Wiege gelegt worden. Immerhin gibt es heute in allen EU-Ländern Strukturen für die Vertretung der Arbeitnehmer im Betrieb.

Das Europäische Gewerkschaftsinstitut in Brüssel bewertet seit 2009 die Stärke der Arbeitnehmerbeteiligung in seinem »European Participation Index« (EPI). Dieser berücksichtigt neben der Beteiligung von Beschäftigten im Aufsichts- oder Verwaltungsrat auch die betriebliche Interessensvertretung (Betriebsrat) sowie die Tarifbindung. »Eine aktuelle Auswertung zeigt«, kritisiert Forschungsleiter Sigurt Vitols, dass »die Beteiligungsrechte seit der Finanzkrise abgenommen haben.« Außerdem wachse die Kluft zwischen Ländern mit starken und schwachen Beteiligungsrechten.

Konkret zeigt der EPI, dass Finnland, Schweden und Dänemark die höchsten Bewertungen haben (rund 85 von 100 möglichen Punkten). Mehrere osteuropäische Länder sowie Zypern und Großbritannien liegen am unteren Ende der Skala. Stärker zurück ging der Partizipations-Index tendenziell in Ländern, die bereits 2009 eine niedrige Einstufung hatten. Vitols schließt daraus auf eine »sich weitende Kluft« zwischen den Ländern mit starken und schwachen Beteiligungsrechten.

Mit der Europäischen Betriebsratsrichtlinie war 1994 die Grundlage für Arbeitnehmervertretungen in grenzüberschreitenden Unternehmen gelegt worden. Aktuell gibt es über 1000 Unternehmen mit EU-Betriebsräten - ihnen stehen jedoch nur vage Informationsrechte zu. Ein Jahrzehnt später schuf eine weitere Richtlinie eine klare und schon deshalb bessere Arbeitsgrundlage. Darin geregelt ist die neue Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (lateinisch: Societas Europaea, SE). Klar ist nun, worüber die Bosse ihre Beschäftigten unterrichten müssen und zu welchen Themen der SE-Betriebsrat vom Chef angehört werden muss. Ländertreffen in Paris, London oder Warschau muss nun die Firma bezahlen. SE-Betriebsratsmitglieder dürfen jeden Betrieb besuchen, und wo es keine nationale Interessenvertretung gibt, können sich Beschäftigte direkt an ihren SE-Betriebsrat wenden. Erfolgversprechende Ansatzpunkte, die in der EU-Betriebsratsrichtlinie fehlen.

Der anfängliche Optimismus von Betriebsräten, Gewerkschaftern und Wissenschaftler ist aber einer gewissen Skepsis gewichen. So hat der frühere Allianz-Aufsichtsrat Jörg Reinbrecht, Europaexperte von ver.di, die Erfahrung gemacht, dass »viel von den handelnden Personen abhängt«. Bei dem Versicherungskonzern Allianz, einem der ersten SE in Deutschland, klappe das in Aufsichts- und Betriebsrat. Doch bei vielen anderen fehlen offenkundig solche Aktivisten. Gewerkschafter berichten zudem über die mangelhafte internationale Ausrichtung ihrer Gewerkschaften: Seit einem Jahrzehnt herrsche diesbezüglich Stillstand - während sich die Kapitalseite weiterentwickelt habe.

So gilt die paritätische Mitbestimmung in Deutschland vielen noch immer als unerreichtes Vorbild für Europa. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes darüber steht noch bis Herbst aus. Ein wichtiger Etappensieg für Gewerkschafter war die Anhörung der EU-Kommission im Januar. Sie ist der Auffassung, dass die deutschen Vorschriften »als mit dem EU-Recht vereinbar angesehen werden können«. Brüssel hält sogar Arbeitnehmermitbestimmung für »ein wichtiges politisches Ziel«. Noch im Frühjahr will Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einen Vorschlag für eine »Europäische Säule sozialer Rechte« vorlegen.

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