Der 1. Mai wird 30 Jahre alt

Die Revolutionäre 18-Uhr-Demo soll dieses Jahr ohne offizielle Anmeldung starten

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 4 Min.

Der 1. Mai in Kreuzberg begann vor 30 Jahren mit einer Polizeirazzia. Räume im Mehringhof wurden durchsucht, die unter anderem von Aktivisten für den Boykott gegen die Volkszählung genutzt wurden. Ihrem Zorn darüber machten Linksradikale nachmittags auf einem Fest zum 1. Mai rund um den Görlitzer Bahnhof Luft. Erst wurde ein Polizeiauto umgeworfen. Dann flogen Steine, aus brennenden Autos wurden Straßenbarrikaden errichtet, schließlich zog sich die Polizei aus diesem Teil von Kreuzberg 36 zurück. Ein Bolle-Supermarkt brannte aus. Später stellte sich heraus, dass das die Tat eines Pyromanen gewesen war. Der 1. Mai 1987 war der Beginn der Revolutionären 1. Mai-Demonstrationen.

Ab da gehörten fliegende Steine zum 1. Mai in Kreuzberg wie das Salz zum Frühstücksei. Auch wechselnde Polizeistrategien konnten das jahrelang nicht verhindern. Erst seit kurzem greift zum einen die polizeiliche Deeskalationsstrategie, zum anderen trägt das MyFest seit 2003 zur Befriedung bei. Seitdem riecht es am Tag der Arbeit auf der Oranienstraße nach Bratwurst statt Brandsatz, die sich aneinander vorbeizwängenden Menschen halten Bier in den Händen statt Pflastersteine. Erst ab 18 Uhr ändert sich das Bild ein wenig, denn dann startet regelmäßig die Revolutionäre 1. Mai-Demonstration.

Die hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr politisiert, meint Marko Lorenz, Sprecher des Demo-Vorbereitungsbündnisses. Krieg und Frieden, Mietenpolitik, Geschlechterfragen: »Der 1. Mai ist für alle politischen Initiativen der traditionelle Tag, an dem sie für ihre Sache auf die Straße gehen«, sagt Lorenz dem »nd«. Dieses Jahr stehe die politische Linke vor einer »besonders heiklen Situation«: dem Rechtsruck in vielen Teilen der Welt. Und im Herbst könnte die AfD in den Bundestag einziehen.

Mit dem neuen rot-rot-grünen Senat verbindet Lorenz wenig Hoffnungen. Bei einer Landesregierung, die »als erste Amtshandlung Taser für die Polizei anschafft«, könne man sich ja »denken, wo die Reise hingeht«. Und die Linkspartei habe sich im Fall Andrej Holm als »rückgratlos« erwiesen. Holm war von der LINKEN zum Wohn-Staatssekretär ernannt worden, nach massiver Kritik wegen seiner Stasivergangenheit trat er nach wenigen Wochen aber zurück.

Bis jetzt ist die diesjährige 18-Uhr-Demo nicht angemeldet, was eine Polizeisprecherin dem »nd« bestätigt. Dem Bündnis für die Revolutionäre 1. Mai-Demo zufolge soll es dazu auch nicht mehr kommen. »Eigentlich muss man nur in autoritären Staaten Demonstrationen anmelden«, sagt Bündnis-Sprecher Lorenz. Und: »Vor 30 Jahren wurde auch keine Demo angemeldet. Die Leute haben sich die Plätze und Straßen einfach genommen.« Die Politik könne aber beruhigt sein: Auch in den vergangenen Jahren sei die 18-Uhr-Demo nicht immer angemeldet gewesen und dennoch sei nichts passiert.

Neben ein bisschen Provokation und dem »Zeichen an den Senat, dass eine kämpferische Bewegung auf der Straße steht«, sieht das Bündnis wenig Zweck in einer Anmeldung und vor allem dem damit verbundenen Anmeldegespräch. »Das brauchen wir nicht. In den letzten Jahren endeten die Anmeldegespräche immer in Schall und Rauch.« In der Regel sei die Demo schon ein Jahr im Voraus angemeldet worden. »Und dann wird die Route für ein kommerzielles Fest über den Haufen geworfen.« Gemeint ist das MyFest, auf dem seit Jahren kommerzielle Anbieter Bier und Bratwürste verkaufen. Lorenz: »Der soziale Unmut soll mit Brot und Spielen gestillt werden.«

Wie bereits 2016 ist das MyFest wieder als Versammlung angemeldet. Soner Ipekcioglu, einer der Anmelder, ist darüber nicht erfreut. »Das ist keine gute Lösung.« Denn: »Wir tragen persönlich die juristische Verantwortung, wenn etwas passiert«, sagt Ipekcioglu. »Der Staat hat sich aus der Veranstalterrolle zurückgezogen.«

Gleich bleiben soll auch die niedrige Zahl an Ständen (rund 100 statt 400 wie noch 2015) und Bühnen (sieben statt 18). Mieten können die Stände nur Anwohner und beispielsweise Essen und Getränke verkaufen, aber keinen Alkohol. Das können aber anliegende Gewerbe über ihr reguläres Ausschankrecht. »Damit haben wir nichts zu tun.«

Auch außerhalb von Kreuzberg wird in Berlin der Tag der Arbeit begangen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat nach Angaben einer Sprecherin wieder drei Demozüge angemeldet: Neben dem traditionellen Marsch sollen auch wieder eine Fahrrad- und eine Motorraddemo durch Mitte ziehen. Als Gastrednerin ist Sakine Esen Yilmaz eingeladen. Die ehemalige Generalsekretärin der türkischen Lehrergewerkschaft Eğitim Sen lebt als Geflüchtete in Essen. Nach dem Putschversuch in der Türkei wurden auch viele Lehrer verhaftet, denen eine Nähe zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird. Auch Yilmaz drohte Gefängnis. Die (internationale) Solidarität soll das diesjährige Motto: »Wir sind viele. Wir sind eins.« ausdrücken. Mit der Polizei sei auf deren Initiative hin ein Gespräch zur Gefährdungslage geführt worden, sagt die Sprecherin. »Es wäre nicht das erste Mal, dass es am 1. Mai rechte Angriffe gibt.« Konkrete Sorgen mache sich der DGB nicht.

Für Lorenz ist die Polizei »Eskalationsfaktor Nummer eins«: »Was die Gefährdungslage angeht, machen wir uns am meisten Gedanken über Polizeigewalt.«

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